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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur
Autoren: Irvin D. Yalom
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»Meine Gedanken wurden unzusammenhängend, verworrene Bilder schwirrten mir durch den Kopf: Erinnerungen, die ich längst vergessen glaubte. Ich entsann mich einiger Einzelheiten meiner zwei sexuellen Begegnungen mit Pam. Und ich sah ihr Gesicht vor mir, nicht so, wie es jetzt ist, sondern wie es vor fünfzehn Jahren war, und zwar mit übernatürlicher Deutlichkeit. Es strahlte; ich wollte es in die Hände nehmen und . . .« Philip war darauf eingestellt, nichts zu verschweigen, weder seine primitive Eifersucht noch die Mentalität eines Höhlenmenschen, mit der er Pam begehrte, nicht einmal sein Bild von Tony mit den Popeye-Unterarmen, doch jetzt überkam ihn ein heftiger Schweißausbruch, der ihn regelrecht überschwemmte. Er stand auf und verließ den Raum, wobei er sagte: »Ich bin klatschnass. Ich muss gehen.«
    Tony stürzte ihm hinterher. Drei oder vier Minuten später traten beide wieder ein, Philip jetzt in Tonys San-Francisco-Giants-Sweatshirt und Tonys Oberkörper nackt bis auf sein enges schwarzes T-Shirt.
    Philip schaute niemanden an, sondern ließ sich, offensichtlich erschöpft, einfach in seinen Sessel fallen.
    »Bringt sie mir lebendig«, sagte Tony.
    »Wenn ich nicht verheiratet wäre«, sagte Rebecca, »könnte ich mich für das, was ihr eben getan habt, in euch beide verlieben.«
    »Ich stehe zur Verfügung«, sagte Tony.
    »Kein Kommentar«, sagte Philip. »Das war’s für mich heute  – ich bin völlig ausgelaugt.«
    »Ausgelaugt? Ihr erster Witz hier, Philip. Er gefällt mir sehr gut«, sagte Rebecca.

»Vielleicht wird nie ein Mensch am Ende seines Lebens,
wenn er besonnen und zugleich aufrichtig ist, wünschen, es
nochmals durchzumachen, sondern, eher als das, viel lieber
gänzliches Nichtssein erwählen.« Ref 144
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    Zum vorletzten Treffen kamen die Mitglieder mit gemischten Gefühlen: Einige waren bekümmert über die bevorstehende Auflösung der Gruppe, andere dachten an persönliche Aufgaben, die unerledigt geblieben waren, wieder andere musterten Julius’ Gesicht, als wollten sie es sich fest einprägen, und alle warteten mit großer Neugier auf Pams Reaktion auf Philips Offenbarungen bei der vorigen Sitzung.
    Doch die befriedigte Pam nicht; stattdessen holte sie ein Blatt Papier aus ihrer Handtasche, entfaltete es langsam und las vor:
    »Ein Zimmermann kommt nicht und sagt: ›Hör meinem Vortrag über die Kunst der Zimmerei zu.‹ Stattdessen schließt er einen Vertrag über den Bau eines Hauses und errichtet es . . . Mache es ebenso: Iss wie ein Mann, trinke wie ein Mann . . . heirate, bekomme Kinder, nimm teil am öffentlichen Leben, lerne mit Verletzungen umzugehen und toleriere andere Menschen.«
    Dann wandte sie sich an Philip und fragte: »Geschrieben von? Raten Sie mal.«
    Philip zuckte die Achseln.

    »Von Ihrem Epiktet. Deshalb habe ich es mitgebracht. Ich weiß, dass Sie ihn sehr schätzen – Sie haben Julius eine von seinen Fabeln verehrt. Warum ich ihn zitiere? Um Tony und Stuart und andere zu unterstützen, die letzte Woche meinten, Sie hätten nie ›am Leben teilgenommen‹. Ich glaube, dass Sie bewusst selektiv vorgehen, wenn Sie bestimmte philosophische Passagen auswählen, um Ihren Standpunkt zu untermauern, und –«
    Gill unterbrach sie: »Pam, dies ist unser vorletztes Treffen. Wenn das jetzt wieder eine von Ihren Schnappt-euch-Philip-Tiraden werden soll – dafür habe ich persönlich keine Zeit. Tun Sie das, was Sie mir immer empfehlen. Kommen Sie zur Sache und sprechen Sie über Ihre Gefühle. Sie müssen doch starke Reaktionen gehabt haben auf das, was Philip in der vorigen Sitzung über Sie sagte.«
    »Nein, nein, lassen Sie mich ausreden«, erwiderte Pam rasch. »Um ›Schnappt euch Philip‹ geht es nicht. Mein Motiv ist ein anderes. Das Eisen kühlt allmählich ab. Ich versuche, Philip zu helfen. Ich glaube, er hat seine Lebensvermeidungsstrategie darauf aufgebaut, dass er sich selektiv Unterstützung durch die Philosophie sucht. Er bezieht sich auf Epiktet, wenn es ihm passt, und übersieht denselben Epiktet, wenn er ihn nicht gebrauchen kann.«
    »Das ist ein wichtiger Punkt, Pam«, sagte Rebecca. »Da legen Sie den Finger auf eine wunde Stelle. Wissen Sie, ich habe mir in einem Antiquariat ein kleines Taschenbuch mit dem Titel Die Weisheiten Schopenhauers gekauft und in den letzten Tagen darin geblättert. Es ist ganz klar: Manches davon ist fantastisch und manches abscheulich. Gestern las ich einen Abschnitt, der mich umgehauen hat. Da
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