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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi
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flüchten, da muss er jetzt Spießruten laufen‹, antwortete der Schmied und warf einen wütenden Blick auf das untere Ende der Soldatenreihen.
    Als ich nun genauer hinblickte, gewahrte ich eine grauenhaft aussehende Gestalt, die sich zwischen den Reihen der Soldaten auf mich zubewegte. Es war ein Mann mit entblößtem Oberkörper, der an die Gewehre zweier Soldaten gebunden war und von ihnen vorwärtsgezerrt wurde. Neben ihm schritt ein stattlicher Offizier in Mantel und Mütze, dessen Gestalt mir bekannt vorkam. Während der Delinquent, am ganzen Körper zuckend und mühsam durch den Schneematsch watend, sich allmählich immer mehr meinem Standort näherte, prasselten von beiden Seiten unaufhörlich Schläge auf ihn nieder; taumelte er dabei nach hinten – stießen ihn die Unteroffiziere, die ihn an den Gewehren führten, nach vorn; stürzte er vornüber – zerrten sie ihn, damit er nicht hinfiel, wieder zurück. Und ohne von seiner Seite zu weichen, ging mit festen, elastischen Schritten der stattliche Offizier neben ihm her. Es war Warenkas Vater mit dem rosigen Gesicht und dem aufgezwirbelten weißen Schnurrbart!
    Bei jedem Schlag drehte der Gezüchtigte, als sei er erstaunt, sein vor Schmerz verzerrtes Gesicht nach der Seite, von der ihn der Schlag getroffen hatte, und wiederholte, seine weißen Zähne entblößend, jedes Mal ein und dieselben Worte. Erst als er ganz in meine Nähe gekommen war, konnte ich die Worte verstehen, die er sagte oder vielmehr wimmernd hervorstieß: ›Brüder, liebe Brüder, erbarmt euch, erbarmt euch!‹ Allein die Brüder erbarmten sich nicht, und als der kleine Trupp unmittelbar vor mir angelangt war, sah ich, wie der mir gegenüberstehende Soldat entschlossen einen Schritt vortrat, den Stock schwang und ihn mit voller Wucht auf den Rücken des Tataren niedersausen ließ. Der Tatar taumelte vornüber, doch die Unteroffiziere stützten ihn, und ein ebenso wuchtiger Schlag traf ihn von der andern Seite, und dann wieder von dieser, und wieder von jener. Der Oberst, der die ganze Zeit neben ihm ging und abwechselnd auf den Boden und auf den Gezüchtigten blickte, atmete in vollen Zügen die Luft ein und blies sie, die Wangen blähend, zwischen den gespitzten Lippen wieder aus. Als der kleine Trupp an der Stelle vorbeikam, an der ich stand, konnte ich für einen Moment den Rücken des Gezüchtigten sehen: Kreuz und quer mit Striemen bedeckt, rot und triefend nass von Blut, bot er einen dermaßen grauenhaften Anblick, dass ich nicht glauben konnte, einen menschlichen Körper vor mir zu haben.
    ›O mein Gott!‹, stammelte neben mir der Schmied.
    Der Trupp entfernte sich wieder – und nach wie vor prasselten von beiden Seiten auf den stolpernden und sich krümmenden Tataren die Schläge nieder, nach wie vor wurde die Trommel geschlagen und die Flöte geblasen, und nach wie vor ging neben dem Gezüchtigten mit festen Schritten die stattliche Gestalt des Obersten. Auf einmal blieb der Oberst stehen und trat schnell an einen der Soldaten heran.
    ›Ich werde dir gleich helfen!‹, hörte ich ihn wütend schreien. ›Wirst du wohl richtig zuhauen? Wirst du wohl?‹
    Und ich sah, wie er mit seiner kräftigen, in einem Wildlederhandschuh steckenden Hand den erschrockenen, schwächlichen kleinen Soldaten ins Gesicht schlug, weil der den Stock nicht mit genügender Wucht auf den roten Rücken des Tataren hatte niedersausen lassen.
    ›Gebt frische Spießruten her!‹, rief er, und als er sich dabei umsah, bemerkte er mich. Er gab sich den Anschein, mich nicht zu kennen, und wandte sich mit grimmig verzogenem Gesicht gleich wieder ab. Mich befiel eine so grenzenlose Scham, dass ich nicht wusste, wohin ich blicken sollte; als wäre ich bei einer weiß Gott wie schlimmen Missetat ertappt worden, senkte ich die Augen und beeilte mich, nach Hause zurückzukehren. Auf dem ganzen Weg schallten mir noch die Trommelschläge und Flötenklänge in den Ohren, und ich hörte entweder die Worte: ›Liebe Brüder, erbarmt euch!‹ oder wie der Oberst wütend mit seiner herrischen Stimme schrie: ›Wirst du wohl richtig zuhauen? Wirst du wohl?‹ Ich war dermaßen niedergeschlagen, dass ich eine fast physische Übelkeit verspürte und mehrmals stehen blieb, weil mir schien, nach all den schrecklichen Eindrücken, die ich eben in mir aufgenommen hatte, würde ich mich jeden Augenblick übergeben müssen. Wie ich nach Hause gekommen bin und mich niedergelegt habe, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur,
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