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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi
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Letzteren gegen Ersteren in Schutz zu nehmen. Tolstoi mag den gewaltigen Künstler, der er war, rücksichtslos einem mittelmäßigen und engstirnigen, wenn auch wohlmeinenden Philosophen geopfert haben, der zu werden er sich entschlossen hatte, schreibt Nabokov; doch sein Schöpferdrang ließ sich nicht im Zaume halten, und die besten Erzählungen seiner letzten Schaffensperiode blieben nach Nabokovs Urteil »vom Moralisieren ganz unberührt«. Mehr noch: »Seine Kunst war so mächtig, so strahlend, so originär und umfassend, dass sie die Predigt spielend überwindet.« Die Triftigkeit dieses Urteils lässt sich nun an dieser Ausgabe von Tolstois schönsten Erzählungen überprüfen.
    Mit Ausnahme der frühen Erzählung »Drei Tode« des dreißigjährigen Autors, erschienen 1859, und der 1863 geschriebenen, doch erst 1885 veröffentlichten Pferde-Geschichte »Leinwandmesser« sind alle übrigen Erzählungen dieses Bandes erst nach Tolstois Konversion entstanden. Er hat seine religiösen Skrupel, seine intellektuellen Zweifel und seine Bekehrung in der Selbstgeißelungs- und Bekenntnisschrift »Die Beichte« 1882 publik gemacht. Darin vollzieht er nach langen und qualvollen Gewissenskämpfen den Bruch mit der russischorthodoxen Kirche zugunsten eines christlichen Anarchismus und Pazifismus, der sich allein auf Jesus und den Geist der Bergpredigt beruft und einzig in der Hinwendung zum schlichten Glauben des leidensfähigen und schicksalsergebenen einfachen Bauernvolks die Rettung erblickt.
    Aus dieser radikalen Umkehr ergibt sich folgerichtig Tolstois Absage an alle Grundwerte und Grundbedingungen seines Lebens bisher. Er sagt sich los vom Schmarotzer-Dasein seiner Standesgenossen, überhaupt von der herrschaftlichen Lebensart in den Stadtpalais und auf den Landsitzen des Adels. Er wettert gegen Luxus und Besitzdenken, verdammt Geld als Übel und Eigentum als Verbrechen, dem man entsagen müsse. Er prangert den Fortschrittsglauben an und brandmarkt die moderne Wissenschaft, allen voran die Medizin. Er schwört dem Familienleben und der Sexualität ab, nennt leibliche Liebe widerlich und gutes Essen unmoralisch, verbauert vorsätzlich in seinem Habitus und predigt ein heiligmäßiges Leben in allumfassender Askese (was er freilich nicht durchhält – Anlass für weitere Selbstgeißelung). Und er verurteilt die literarischen Werke, die er bisher geschrieben hat, und will von Belletristik fortan nichts mehr wissen.
    Zwar ist nicht zu übersehen, dass sich seine Bekehrung in unzähligen moralisierenden Werken niederschlägt. Gleichwohl lässt sich der Schriftsteller Tolstoi auch in seiner zweiten Lebenshälfte keineswegs reduzieren auf Erbauungsliteratur, agitatorische Publizistik und pädagogisch-didaktische Läuterungsschriften. Die Rousseau’ sche Werte-Antinomie Zivilisation/Natur, die seit seinen literarischen Anfängen sein Denken bestimmt, hält ihn allerdings auch weiterhin in Bann. Das verderbte und verlogene Großstadtleben gegen das simple und natürliche Leben auf dem Lande auszuspielen, ist ein immer wiederkehrender Topos in seinem Werk.
    Schon früh, in seiner knappen, parabelhaften Erzählung »Drei Tode«, kontrastiert Tolstoi zivilisatorisches und natürliches Verhalten in der Todesstunde am Beispiel einer Gutsherrin und eines einfachen Bauernkutschers, die beide an Lungenschwindsucht sterben. Die verwöhnte Dame macht viel Aufhebens von ihrer Krankheit, betrügt sich die längste Zeit selbst über ihren desolaten Zustand, quält ihre Umgebung mit Anklagen und hektischen Flucht- und Selbstrettungsversuchen, verlangt nach dem milden Klima Italiens oder nach einem Wunderheiler und will sich trotz ihres Christentums mit ihrem nahen Ende nicht abfinden. Fjodor, der kranke Fuhrmann, hingegen liegt in der Kutscherstube einer Poststation auf dem Ofen und wartet still und schicksalsergeben auf seinen Tod, den er als Naturgesetz begreift und dem er sich, ohne sich aufzulehnen, ruhig ergibt. Der dritte Tod trifft einen Baum, der im Wald gefällt wird und majestätisch zu Boden sinkt. »Der Baum stirbt ruhig, aufrecht und schön«, erläutert Tolstoi seine Erzählung in einem Brief aus jener Zeit: »Schön – weil er nicht lügt, sich nicht ziert, nichts fürchtet noch bedauert.«
    36 Jahre nach diesem dreiteiligen Gleichnis variiert und vertieft der inzwischen fast siebzigjährige Tolstoi das Thema des richtigen Sterbens in seiner Erzählung »Herr und Knecht« (erschienen 1895). Als Kontrastfiguren, die hier
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