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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi
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sein Diener Gerassim, ein frischer, junger Bauernbursche, der sich seiner ohne Aufhebens erbarmt, mit großer Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit sein Martyrium lindert und seinen zerfallenden Körper pflegt.
    Es ist offensichtlich, dass Tolstoi ohne die Erfahrung seiner eigenen Sinnkrise und ohne sein Bekehrungserlebnis diese Erzählung vom richtigen und vom falschen Leben so nicht hätte schreiben können, wie er sie geschrieben hat. Und Ähnliches gilt für die kleine Geschichte »Nach dem Ball«, die 1903, sieben Jahre vor seinem Tod, entstand, doch erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Sie geht zurück auf ein Erlebnis des jungen Tolstoi, aus seiner Studentenzeit in den 1840er Jahren an der Universität der Provinzstadt Kasan; und sie besteht aus zwei komplementären Episoden, die motivlich raffiniert miteinander verschränkt sind: auf dem Ball und nach dem Ball.
    Auf einem Ball am letzten Abend der Karnevalswoche tanzt der adelige Student Iwan Wassiljewitsch mit der reizenden jungen Warenka, der Tochter eines Obersten, in die er schon seit längerer Zeit verliebt ist. In der leidenschaftlichen Tanzbewegung fühlt er seinen eigenen Körper nicht mehr, und auch die Geliebte, die er durch den Ballsaal wirbelt, erscheint ihm ganz unkörperlich. Als danach der Oberst, ein stattlicher und gutaussehender Militär alter Schule, mit seiner Tochter tanzt, wird der zuschauende Iwan Wassiljewitsch von einem Gefühl der gerührten Zuneigung für die ganze Gesellschaft erfasst. Er liebt in diesem Moment nicht nur Warenka auf eine platonisch-idealistische Weise, sondern auch ihren jovialen Vater, und überhaupt möchte er die ganze Welt umarmen.
    Am Morgen nach dem Ball – der Karneval ist vorbei, die Fastenzeit beginnt soeben – treibt die Unruhe den Jüngling früh hinaus ins Freie und in die Nähe von Warenkas Haus. Dort locken ihn Trommel- und Flötenklänge zu einem Menschenauflauf. Zwischen zwei Reihen schwarz uniformierter Soldaten sieht er »etwas Entsetzliches« auf sich zukommen. Dieses Entsetzliche entpuppt sich als halbnackter Soldat mit blutig gepeitschtem Rücken, ein tatarischer Deserteur, der Spießruten laufen muss. Dem Zuschauer erscheint dies als eine andere Art von öffentlichem Tanz, allerdings nicht ideal-ätherisch, sondern von schrecklicher Körperlichkeit.
    Das Schrecklichste freilich ist die Roheit des kommandierenden Offiziers: Es ist kein anderer als Warenkas Vater, der hier nach frischen Spießruten schreit und einen schwächlichen Soldaten brutal ins Gesicht schlägt, weil der nicht wüst genug auf den wimmernden Delinquenten einprügelt. Als er den entgeisterten Iwan Wassiljewitsch erblickt, tut er, als würde er ihn nicht kennen. Der aber fühlt, wie seine Liebe schwindet – die Zuneigung zu dem Mädchen ebenso wie sein Gefühl innigen Einverstandenseins mit ihrer ganzen Gesellschaft.
    Üblicherweise wird »Nach dem Ball« als Kritik des alten Tolstoi an der absolutistischen Zaren-Herrschaft gedeutet, die in seiner Sicht auf Heuchelei, Gewalt und Brutalität beruhte. Doch mindestens so bedeutsam ist das Motiv der plötzlichen Erkenntnis und seelischen Umkehr des Helden, denn es verleiht der kleinen Geschichte ihre spirituellen und christlichen Obertöne. Dann wird man in dem blutig vorgeführten Soldaten eine Ecce-Homo-Gestalt und einen Hinweis auf die österliche Passion Christi erblicken dürfen, das Umkippen vom Karneval zum Kalvarienberg. Und Tolstois rigorose Absage an den Karneval des Lebens, an die Lügenhaftigkeit einer nur scheinbar wohlwollenden Gesellschaft, wird ein weiteres Mal bekräftigt.
    Insofern wird man Nabokovs Urteil, Tolstois Spätwerk sei vom Moralisieren ganz unberührt, zwar etwas einschränken müssen; doch das tut der Faszination und Sogkraft dieses Erzählers und einem anderen Kernsatz Nabokovs keinen Abbruch: »Wer Tolstoi liest, liest einfach weiter, weil er nicht mehr aufhören kann.«

BIOGRAPHISCHE NOTIZ
     
    Lew Tolstoi (1828–1910) entstammte einem alten russischen Adelsgeschlecht. Mit zwei Jahren verlor er die Mutter, mit neun Jahren den Vater. Nun Vollwaise, wurde er unter die Vormundschaft der Schwester seines Vaters gestellt. 1844 studierte er in Kasan zunächst orientalische Sprachen, wechselte dann an die juristische Fakultät. Nach Abbruch des Studiums 1847 unternahm er in Jasnaja Poljana, dem Stammgut der Familie, erste erfolglose Versuche, durch Landreformpläne das Leben der 350 geerbten Leibeigenen zu verbessern. Ab 1851 diente er
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