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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi
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den Mund. Mit seiner breiten, militärisch herausgereckten und mit ein paar Orden geschmückten Brust, den ausladenden Schultern und den langen, kräftigen Beinen machte er einen imposanten Eindruck. Er war ein typischer alter Haudegen nikolaischer Schule.
    Als wir zur Tür kamen, sträubte er sich zunächst, da er, wie er sagte, ganz aus der Übung gekommen sei; aber schließlich griff er sich dennoch an die linke Seite, schnallte lächelnd den Degen ab, den er einem dienstbeflissenen jungen Mann übergab, streifte einen Wildlederhandschuh über seine Rechte – ›alles wie es sich gehört‹, bemerkte er schmunzelnd –, fasste die Tochter bei der Hand und stellte sich mit ihr in Positur, um den Auftakt zum Tanz abzuwarten.
    Als nun die ersten Klänge einer Mazurka ertönten, stampfte er mit dem einen Fuß auf, streckte den anderen vor – und seine große, wuchtige Gestalt bewegte sich, mal gemessen und gravitätisch, mal stürmisch, laut mit den Stiefeln aufstampfend und die Füße aneinanderschlagend, den Saal entlang. Warenkas graziöse Figur schwebte neben ihm her; und unmerklich verkürzte oder verlängerte sie dabei abwechselnd die Schritte ihrer zierlichen, in weißen Atlasschuhen steckenden Füße. Die Leute im Saal verfolgten jede Bewegung des Paares. Ich selbst betrachtete die beiden nicht nur mit Wohlgefallen, sondern geradezu voller Entzücken und Rührung. Am meisten rührten mich die durch den Lederriemen strammgezogenen Stiefel des Obersten; es waren durchaus solide kalbslederne Stiefel, aber sie hatten nicht die spitze Fasson, sondern eine altmodische mit viereckigen Spitzen und ohne Absätze. Offensichtlich waren sie ein Werk des Bataillonsschusters. Ja, dachte ich, um die geliebte Tochter ausführen und entsprechend kleiden zu können, kauft er sich kein modernes Schuhzeug, sondern trägt diese derb zusammengeschusterten Stiefel. Man sah, dass er einstmals ein sehr guter Tänzer gewesen sein musste, doch jetzt war er schon zu schwerfällig, und seine Beine waren nicht mehr gelenkig genug, um alle die hübschen und schnellen Pas des Tanzes auszuführen. Trotz alledem absolvierte er ziemlich flott zwei Runden. Als er dann rasch die Füße auseinanderstellte und wieder zusammenschlug und sich, obschon ein wenig unbeholfen, auf ein Knie niederließ und Warenka lächelnd ihren Rock zurechtzog, an dem er hängengeblieben war, und graziös im Kreis um ihn herumtanzte, wurde von allen Seiten stürmisch applaudiert. Nachdem er sich hierauf mit einiger Anstrengung wieder erhoben hatte, umfasste er mit beiden Händen das Gesicht der Tochter, küsste sie auf die Stirn und führte sie mir zu, in der Annahme, sie hätte vorher mit mir getanzt. Ich sagte, ich sei nicht ihr Partner.
    ›Nun, das macht nichts, dann tanzen Sie eben jetzt eine Runde mit ihr‹, sagte er freundlich lächelnd, während er sich wieder den Degen umschnallte.
    So wie sich mitunter aus einer Flasche nach dem ersten Tropfen ihr weiterer Inhalt in großen Strömen ergießt, so hatte meine Liebe zu Warenka die ganze in meiner Seele verborgene Fähigkeit zu lieben befreit. Ich umfing in diesem Augenblick die ganze Welt mit meiner Liebe. Ich liebte die Hausfrau mit ihrem Diadem und dem Jelisaweta-Busen, liebte ihren Mann, alle Gäste und Diener, ja selbst den mir grollenden Ingenieur Anissimow. Und für Warenkas Vater, der diese derben Stiefel trug und ebenso gewinnend lächelte wie sie, empfand ich damals ein an Verzückung grenzendes zärtliches Gefühl.
    Die Mazurka war beendet, und der Adelsmarschall und seine Frau baten die Gäste zu Tisch. Der Oberst nahm jedoch nicht am Essen teil; er entschuldigte sich bei den Gastgebern unter dem Vorwand, er müsse am nächsten Morgen früh aufstehen, und brach auf. Ich fürchtete schon, Warenka würde nun auch nach Hause müssen, doch sie blieb mit ihrer Mutter noch da.
    Nach dem Essen tanzte ich mit ihr wie verabredet die Quadrille, und obgleich ich mich auch bis dahin schon über alle Maßen glücklich gefühlt hatte, steigerte sich meine Glückseligkeit noch mehr. Wir sprachen kein Wort über Liebe. Ich fragte weder sie, noch stellte ich mir selbst die Frage, ob sie mich liebte. Es genügte mir, dass ich sie liebte, und mir bangte nur davor, mein Glück könnte auf irgendeine Weise zunichtegemacht werden.
    Als ich nach Hause kam, den Mantel ausgezogen hatte und zu Bett gehen wollte, merkte ich, dass an Schlafen gar nicht zu denken war. Ich hielt die kleine Feder von ihrem Fächer und einen ihrer
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