Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schönsten Dinge

Die schönsten Dinge

Titel: Die schönsten Dinge
Autoren: Toni Jordan
Vom Netzwerk:
wiederholen.
    Manchmal frage ich mich, was aus mir geworden wäre, wenn ich bei diesem ersten Mal versagt hätte oder wenn es auch nur schwierig gewesen wäre. Wenn niemand stehen geblieben wäre. Wenn die Frau mir nichts gegeben oder ich nur zwanzig Cent oder eine Standpauke kassiert hätte. Vielleicht wäre mein Leben anders verlaufen. Ich könnte jetzt Tierärztin oder Architektin oder Köchin sein. Stattdessen ist es egal, wie viele Tricks ich durchgezogen oder wie viel Geld ich gemacht habe. Die letzten zwanzig Jahre habe ich im Bann dieses winkenden Geldscheins verbracht.
    Ruby glaubte nicht so an die Regeln, wie mein Vater es tat. Sie hielt mir nicht an einem hübschen Schreibtisch Vorträge. Ihr Ding waren Pläne und Listen und Ordnung. Sie war umsichtig und ruhig und fand, jeder Fall sollte für sich beurteilt werden, keine Regel ließe sich auf jede Situation anwenden. Was meine Erziehung betraf, hielt sie sich an die Wünsche meines Vaters. Immerhin war ich nicht ihr Kind.
    Als wir im Mercedes zurück zur Cumberland Street fuhren, wiederholte sie einiges von dem, was ich gelernt hatte. Sie sagte nicht, ich hätte meine Sache gut gemacht. Sie lächelte auch nicht. Ich hatte ihre Erwartungen erfüllt, mehr nicht. Für Ruby drehte sich alles ums Lernen.
    Â»Also, Della«, sagte sie, als wir an einer Ampel hielten. Ihr Bleistiftrock war so eng, dass sie kaum richtig bremsen konnte. Sie trug ihre Autoschlappen, ihre Krokodillederpumps lagen neben mir auf dem Sitz wie ein glänzendes, bronzefarbenes lebendes Wesen. »Zwei Sachen musst du dir merken: das Gesicht der Frau, damit du sie wiedererkennst, wenn du sie noch einmal siehst, und was du gesagt hast. Manche Leute machen sich Zeichnungen und schreiben sich die Gespräche auf, aber was bringt das? Falls du der Frau noch mal über den Weg läufst, hast du dein Notizbuch wahrscheinlich nicht dabei. Präg dir alles ein. Dein Gedächtnis ist dein wichtigstes Handwerkszeug.«
    Ich verschränkte die Arme und starrte aus dem Fenster. Das wusste ich. Das musste man mir nicht noch mal sagen, schon gar nicht Ruby. In meiner verschwitzten Hand steckte ein zusammengefalteter Zehndollarschein. Ich hatte genug vom Unterricht, vor allem von den endlosen Gedächtnisspielen. Dazu saßen wir auf dem Ledersofa, auf dem Tisch vor uns stapelweise aus Zeitungen und Zeitschriften herausgerissene Fotos. Dutzende Fotos von irgendwelchen Leuten. Jedes bekam ich nur einen kurzen Moment zu sehen. Am nächsten oder übernächsten Tag oder auch Tage später rückten mein Vater und Onkel Syd die Möbel beiseite und verteilten Gruppen von dreißig oder vierzig Fotos auf dem Boden des Esszimmers. Und ich musste diejenigen heraussuchen, die ich schon gesehen hatte. Ich lernte, auf die Form von Lippen, Stirnfalten und Wimpern zu achten, aber besonders auf die Ohren. An anderen Tagen übten wir Einzelheiten wie Gegenstände in einem Zimmer oder Zahlen wie Kontonummern und Tresorkombinationen. Ruby hatte recht damit, dass mein Gedächtnis mein wichtigstes Werkzeug war. Sie haben mir viel beigebracht. Ich vergesse nie ein Gesicht. Ich vergesse nie irgendwas.
    Â»Della?« Ruby runzelte die Stirn. »Geh es in Gedanken noch einmal durch und präge dir alles ein. Jetzt, habe ich gesagt.«
    Ich kniff die Lippen zusammen, tat jedoch, was sie verlangte, und ließ das Gespräch Wort für Wort mit jeder Geste vor meinem inneren Auge ablaufen. Ich erinnerte mich an alles.
    Â»Gut. Jetzt vergiss, was du gesagt hast. Denk daran, was du gefühlt hast. Was davon war echt?«
    Ich schloss die Augen und zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab. »Dass sie keinen Polizisten holen sollte. Dass ich kein Geld habe. Dass zehn Dollar zu viel sind.«
    Â»Genau«, sagte Ruby. »Und deshalb hast du es geschafft. Die Leute glauben, in unserem Geschäft hätte man mit Lügen Erfolg, dabei stimmt das Gegenteil. Es geht darum, die Wahrheit zu sagen.«
    Â»Ich hab gesagt, dass mir meine Mama fehlt. Das war die Wahrheit.«
    Ruby erstarrte, während sie von der Hauptstraße abbog und über die Bahngleise fuhr. Ihre Wangen hatten sich unter dem Make-up leicht gerötet. Das Auto atmete tief ein, holte Luft, als Ruby die Kupplung trat, um zu schalten.
    Â»Na ja«, sagte sie. »Das klingt ja schön melodramatisch, Della, aber ich bezweifle es. Wahrscheinlich kannst du dich an deine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher