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Die schönsten Dinge

Die schönsten Dinge

Titel: Die schönsten Dinge
Autoren: Toni Jordan
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ungepflegt. Das war die zweite Regel. Du musst erfolgreich wirken. Vertrauenswürdig. Du bist nicht anders als sie. Genaugesagt könnten sie in dieser Lage sein.
    Durch meinen Pony konnte ich sehen, dass meine Kundin rundlich war. Ihre staubigen braunen Schuhe hatten klobige Absätze und Plastikschnallen. Zu einer hellbraunen Hose trug sie eine Strickjacke in Altrosa und eine geblümte Bluse. In den Händen hielt sie Einkaufstüten: eine aus einem Bettwäscheladen, zwei aus dem Kaufhaus. Schmuck konnte ich nicht entdecken. Ihre Handtasche hing über ihrer Schulter, der Reißverschluss war hinten ein Stückchen geöffnet.
    Sie blieb vor mir stehen. »Hallo«, sagte sie. »Alles in Ordnung, Schätzchen?«
    Würde ich das wirklich schaffen? Es war zu früh, ich war noch zu klein. Ich trug Zöpfe, aber einer saß höher als der andere, und die Haarbänder passten nicht zueinander. Normalerweise machte Ruby mir die Haare anders, aber das war noch eine Regel: Trag etwas oder nimm etwas mit, das dich in die Rolle hineinversetzt, das dir zeigt, dass du nicht du selbst bist. Ein sichtbares, augenfälliges Requisit, das dich daran erinnert, wen du spielst. Ich zitterte leicht – ein nettes zusätzliches Detail, das mir allerdings nicht weiter schwerfiel. Ruby hatte meinen Pulli mitgenommen. Sie meinte, es würde besser wirken, wenn mir ein bisschen kalt wäre. Und wenn man meine dünnen Arme sehen konnte.
    Â»Hast du dich verlaufen? Wo ist deine Mama?« Die Frau berührte mich an der Hand. Ihre Haut fühlte sich warm und pergamentartig an.
    Â»Weg«, brachte ich heraus und schniefte, und dann brach es aus mir hervor: »Mama ist weg, und Papa hat gesagt, ich darf keinen Lärm machen, deshalb hat er mir Geld für den Bus und das Kino gegeben, aber ich habe es verloren, und jetzt weiß ich nicht, wie ich nach Hause kommen soll. Ich weiß nicht, wie ich es verloren habe. Ich hatte es hier, und jetzt ist es weg.« Ich stülpte die Tasche in meinem Kleid nach außen und strich über die Naht, als könnte das Geld auf wundersame Weise wiederauftauchen. Den Kopf ließ ich immer noch hängen, ich sah sie nur von unten an. Ein echter Hundeblick, wie ich es gelernt hatte. Sam meinte, mit meinen Augen hätte ich es viel leichter als er.
    Sie verschränkte die Arme und schnalzte empört mit der Zunge. Ich sah die Falten in ihren Wangen und wie sie die Mundwinkel nach unten zog.
    Â»Eine Schande. In deinem Alter. Ganz allein in der Stadt unterwegs.«
    Ich schlang die Finger ineinander. »Ich habe Papa gesagt, ich bin groß genug. Ich kann das schon. Weil Mama weg ist und Papa ständig weint und ich leise sein soll.«
    Ihr Kopf ruckte nach oben, als hätte ich sie geschlagen. Sie trat von einem Bein auf das andere, dann rieb sie sich mit einer Hand das Kinn. »Wir müssen einen Polizisten suchen«, sagte sie.
    Mit einem leisen Schrei zuckte ich zusammen. Das war nicht schwer zu spielen.
    Â»Nein. Nein, bitte nicht. Ich weiß, wo der Bus abfährt. Ich kann das, wirklich. Wenn mich ein Polizist nach Hause bringt … Ich will doch brav sein. Ich will Papa zeigen, dass ich schon groß bin. Ich will meine Mama.« Wieder legte ich das Gesicht in die Hände und schluchzte. Ich hatte übertrieben. Das würde mir niemand abkaufen. In diesem Moment hörte ich, wie ein Reißverschluss geöffnet wurde.
    Â»Hier«, sagte sie. »Hier, nimm das.«
    Mir blieb das Herz stehen. Ein glatter blauer Schein. Zehn Dollar. Viel mehr als für den Kinoeintritt und eine Busfahrkarte.
    Â»Hier«, sagte sie wieder. Der Schein klemmte zwischen ihren ausgestreckten Fingern, sie wedelte damit, als wollte sie ein Feuer anfachen.
    Â»Das ist zu viel«, flüsterte ich.
    Da lächelte sie und berührte mich an der Schulter. »Für ein Eis und etwas zu trinken im Kino. Aber du darfst nicht mit Fremden sprechen. Außer jetzt mit mir. Danach, meine ich.« Und der steife Schein zwischen ihren Fingern tanzte durch die Luft.
    Ich bin keine Spielerin, aber in meiner Familie gibt es einige. Ich könnte die Vorstellung nicht ertragen, dass mein Schicksal von einem Würfel oder von der Handlung eines Fremden abhängt, eines Jockeys oder Kartengebers. Aber eines weiß ich. Um Spieler zu werden, muss man am Anfang einmal groß abräumen. Einmal den Sieg kosten und danach ein Leben lang versuchen, das zu
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