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Die schöne Diva von Saint-Jacques

Die schöne Diva von Saint-Jacques

Titel: Die schöne Diva von Saint-Jacques
Autoren: Fred Vargas
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Brunnen? Da hinten, die helle Masse. Marc rannte dorthin, Lucien hinter ihm her. Er hörte nichts, keinerlei Geräusch außer seinen und Luciens Schritten. Panik ergriff ihn. Eilends räumte er die schweren Bretter beiseite, die die Öffnung bedeckten. Scheiße, er hatte keine Taschenlampe mitgenommen. Na ja, er hatte ja eh seit langem keine Taschenlampe mehr. Sagen wir, seit zwei Jahren. Er beugte sich über den Brunnenrand und rief nach Mathias.
    Kein Ton. Warum konzentrierte er sich so hartnäckig auf den Brunnen? Warum nicht auf das Haus oder das kleine Gehölz? Nein, es war der Brunnen, er war sich sicher. Der Brunnen war eine einfache, saubere Sache, mittelalterlich und ohne Spuren. Er hob den schweren Zinkeimer auf und ließ ihn ganz langsam in den Brunnen hinab. Als er spürte, wie er tief unten die Wasseroberfläche berührte, klemmte er die Kette ein und kletterte über den Brunnenrand.
    »Achte drauf, daß die Kette blockiert bleibt«, sagte er zu Lucien. »Bleib hier bei dem verdammten Brunnen. Und paß bloß auf dich auf. Mach keinen Lärm, schreck sie nicht auf. Vier, fünf oder sechs Leichen, das ist ihr inzwischen egal. Gib mir dein Rumfläschchen.«
    Marc machte sich an den Abstieg. Er hatte eine Scheißangst. Der Brunnen war eng, schwarz, glitschig und eisig wie jeder Brunnen, aber die Kette hielt. Er hatte den Eindruck, sechs bis sieben Meter hinuntergeklettert zu sein, als er den Eimer berührte und seine Knöchel in das eiskalte Wasser tauchten. Er ließ sich bis über die Knie ins Wasser hinunter und hatte das Gefühl, als würde seine Haut durch die Kälte aufplatzen. Mit den Füßen spürte er jetzt die Masse eines Körpers und hätte beinahe laut aufgeschrien.
    Er rief ihn an, aber Mathias antwortete nicht. Marcs Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Er ließ sich noch bis zur Taille ins Wasser hinunter. Mit einer Hand tastete er den Jäger und Sammler ab, der sich wie ein Kretin in die Tiefe des Brunnens hatte werfen lassen. Kopf und Knie ragten aus dem Wasser. Mathias war es gelungen, seine langen Beine gegen die runde Brunnenwand zu stemmen. Was für ein Glück, daß er in einen so engen Brunnen geworfen worden war. Er hatte es geschafft, sich zu verkeilen. Aber wie lange lag er schon in dem eiskalten Wasser? Wie lange rutschte er schon Zentimeter für Zentimeter tiefer und mußte dieses dunkle Wasser schlucken?
    Er konnte Mathias, unbeweglich wie er war, nicht allein hinaufziehen. Der Jäger mußte zumindest die Energie aufbringen, sich festzuhalten.
    Marc wickelte die Kette um seinen rechten Arm, verkeilte seine Beine um den Eimer, verstärkte seinen Griff und begann, Mathias hochzuziehen. Mathias war so groß und so schwer. Marc mühte sich ab. Nach und nach kam Mathias aus dem Wasser, und nach einer viertelstündigen Anstrengung lag sein Oberkörper auf dem Eimer. Marc stützte ihn mit einem Bein, das er gegen die Wand stemmte, und schaffte es, mit seiner linken Hand an die Rumflasche zu kommen, die er sich in die Jacke gestopft hatte. Wenn Mathias noch halbwegs lebendig war, würde er dieses Kuchenzeugs hassen. Mehr recht als schlecht schüttete er Mathias etwas davon in den Mund. Es lief überall heraus, aber Mathias reagierte. Nicht eine Sekunde hatte Marc die Vorstellung zugelassen, daß Mathias sterben könnte. Nicht der Jäger und Sammler. Marc verabreichte ihm ungeschickt ein paar Ohrfeigen und schüttete ihm erneut Rum in den Mund. Mathias brummte. Er tauchte aus dem Wasser auf.
    »Hörst du mich? Ich bin’s, Marc.«
    »Wo sind wir?« fragte Mathias mit sehr dumpfer Stimme. »Mir ist kalt. Ich sterbe.«
    »Wir sind im Brunnen. Wo sollten wir sonst sein?«
    »Sie hat mich reingeworfen«, stöhnte Mathias. »Niedergeschlagen und reingeworfen. Ich hab sie nicht kommen sehen.«
    »Ich weiß«, sagte Marc. »Lucien wird uns hochziehen. Er ist da oben.«
    »Sie wird ihn massakrieren«, sagte Mathias stockend.
    »Mach dir um ihn keine Sorgen. An der Front ist er super. Los, trink!«
    »Was ist das für eine Scheiße?«
    Mathias Stimme war fast nicht zu hören.
    »Das ist Rum zum Backen, gehört Lucien. Wärmt dich das?«
    »Trink lieber auch was davon. Das Wasser lähmt.«
    Marc trank ein paar Schlucke. Die Kette, die er um den Arm geschlungen hatte, schürfte ihm die Haut auf und brannte.
    Mathias hatte die Augen wieder geschlossen. Er atmete, mehr war nicht zu sagen. Marc pfiff, und Luciens Kopf erschien in dem kleinen, etwas helleren Kreis über ihnen.
    »Zieh langsam die
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