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Die schöne Diva von Saint-Jacques

Die schöne Diva von Saint-Jacques

Titel: Die schöne Diva von Saint-Jacques
Autoren: Fred Vargas
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verachtete die Bewunderer, die es vor ihm gegeben hatte, und jene, die nach ihm gekommen waren, mit anderen Worten alle. Mit dem Baum konnte er aber recht haben. Vielleicht, aber nicht sicher. Sie hörte Pierre, wie er »Auf Wiedersehen – bis heute abend – mach dir keine Sorgen« sagte, und blieb allein zurück.
    Mit dem Baum.
    Sie ging zu ihm hin, um ihn sich anzusehen. Aber vorsichtig, als ob er explodieren könnte.
    Natürlich hing keine Nachricht dran. Am Fuß des jungen Baums war eine runde Fläche frisch umgegrabener Erde. Was war das eigentlich für ein Baum? Sophia umkreiste ihn mehrmals schmollend und mit feindseligem Blick. Sie tendierte zu einer Buche. Sie tendierte auch dazu, ihn wieder brutal herauszureißen, aber sie war ein bißchen abergläubisch und wagte es nicht, sich an einem lebenden Wesen zu vergreifen, und sei es eine Pflanze. Tatsächlich reißen nur wenige Menschen gerne einen Baum aus, der ihnen nichts getan hat.
    Sie brauchte lange, bis sie ein Buch zu diesem Thema gefunden hatte. Neben der Oper, der Beschäftigung mit dem Leben der Esel und den Mythen hatte Sophia nicht die Zeit gehabt, viel zu lernen. Eine Buche? Schwer zu sagen ohne Blätter. Sie durchsuchte das Stichwortverzeichnis des Buches, um zu sehen, ob ein Baum vielleicht Sophia irgendwas hieß. Als eine versteckte Ehrung, genau auf der Linie eines verkrampften mausartigen Bewunderers. Das wäre beruhigend. Nein, es gab nichts über Sophia. Oder eine Art Stelyos irgendwas? Das wäre alles andere als angenehm. Stelyos hatte nichts Mausartiges, auch nichts Rhinozerosartiges. Und er verehrte Bäume. Nachdem Pierre sein Gebirge von Schwüren auf den steinernen Rängen von Orange errichtet hatte, hatte Sophia sich gefragt, auf welche Weise sie Stelyos verlassen sollte, und sie hatte weniger gut gesungen als sonst. Und diesem verrückten Griechen war nichts Besseres eingefallen, als kurzerhand ins Wasser zu gehen. Man hatte ihn, keuchend auf dem Wasser treibend wie ein Idiot, wieder aus dem Mittelmeer gezogen. Als Jugendliche hatten Sophia und Stelyos es geliebt, mit Eseln, Ziegen und all dem Kram Delphi zu verlassen und die Pfade entlangzuziehen. Sie nannten das »die alten Griechen spielen«. Und dieser Idiot wollte sich ertränken. Zum Glück gab es das Gebirge von Pierres Gefühlen. Heute kam es bisweilen vor, daß Sophia unwillkürlich ein paar vereinzelte Brocken davon suchte. Stelyos? Eine Drohung? Würde Stelyos so etwas tun? Ja, dazu wäre er fähig. Das Mittelmeer hatte wie ein Peitschenhieb auf ihn gewirkt. Als er wieder an Land war, hatte er wie ein Verrückter herumgeschrien. Sophias Herz schlug zu schnell, sie mußte sich anstrengen, um aufzustehen, ein Glas Wasser zu trinken, einen Blick aus dem Fenster zu werfen.
    Dieser Blick beruhigte sie sofort. Was war nur in sie gefahren? Sie holte tief Luft. Ihre Manie, die sie manchmal überkam, sich aus einem Nichts heraus eine Welt logisch aufeinanderfolgender Schrecken aufzubauen, war belastend. Es war – sie war fast sicher – eine Buche, eine junge Buche ohne jede Bedeutung. Aber wo war der Pflanzer letzte Nacht mit dieser verdammten Buche hergekommen? Sophia zog sich rasch an, verließ das Haus, prüfte das Schloß am Gittertor. Nichts zu bemerken. Allerdings war es ein so einfaches Schloß, daß man es mit einem Schraubenzieher sicherlich in Nullkommanichts öffnen konnte, ohne Spuren zu hinterlassen.
    Frühlingsanfang. Es war feucht, und sie begann zu frieren, während sie dort stand und mißtrauisch der Buche die Stirn bot. Eine Buche. Ein Wesen? Sophia schob diesen Gedanken beiseite. Sie haßte es, wenn ihre griechische Seele mit ihr durchging, und dann gleich zweimal an einem Morgen. Und Pierre würde sich nie für den Baum interessieren. Warum auch? War es normal, daß er derart gleichgültig war?
    Sophia hatte keine Lust, den ganzen Tag mit dem Baum allein zu bleiben. Sie nahm ihre Handtasche und verließ das Haus. Auf der schmalen Straße stand ein junger Typ, Anfang Dreißig oder älter, und spähte durch den Zaun des Nachbarhauses. »Haus« war ein vornehmes Wort. Pierre sagte immer »die Bruchbude«. Er fand, daß diese Bruchbude, in der seit Jahren niemand mehr wohnte, in ihrer vornehmen Straße mit den gepflegten Häusern einen schmuddeligen Eindruck machte. Bis zu diesem Moment hatte Sophia nie daran gedacht, Pierre könne mit zunehmendem Alter vielleicht zum Kretin werden.
    Diese Vorstellung setzte sich jetzt in ihr fest. Die erste unselige Wirkung des
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