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Die schöne Diva von Saint-Jacques

Die schöne Diva von Saint-Jacques

Titel: Die schöne Diva von Saint-Jacques
Autoren: Fred Vargas
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Brückenbogen aufzugeben, Louise, bekannt für ihre Schimpfkanonaden in der Gare de Lyon, war offenbar seit über einer Woche nicht mehr an ihrem Platz gewesen. Möglich, daß die schöne Sophia sie mitgenommen und verbrannt hatte.
    Ja, ein Schmerz hämmerte in seiner Stirn.

 
     
34
     
    Marc rannte durch die Straßen, bis er nicht mehr konnte, bis ihm die Lungen brannten. Er war außer Atem, der Rücken seines Hemdes klatschnaß, und keuchend setzte er sich auf den ersten steinernen Poller, den er fand. Hunde hatten daraufgepißt. Ihm war das egal. Seinen brummenden Kopf in die Hände gepreßt, dachte er nach. Ihm war schlecht, und er war vollkommen durcheinander. Er mußte versuchen, wieder zur Ruhe zu kommen, um denken zu können. Nicht mit den Füßen stampfen wie bei den Schaumstoffbällen. Nicht wieder Plattentektonik betreiben. Hier auf diesem verpißten Poller würde er nicht nachdenken können. Er sollte gehen, langsam weitergehen. Aber zunächst mußte er wieder zu Atem kommen. Er sah um sich, um festzustellen, wo er überhaupt war. Auf der Avenue d’Italie. So weit war er gerannt? Er stand vorsichtig auf, wischte sich die Stirn und ging auf die Metrostation zu. Maison Blanche. Weißes Haus. Weiß. Das erinnerte ihn an etwas. Ach, ja, der weiße Wal. Moby Dick. Das angenagelte Fünf-Francs-Stück. So war der Pate, er wollte spielen, und alles versank schließlich im Grauen. Die Avenue d’Italie wieder hinaufgehen. Mit langsamen, gleichmäßigen Schritten gehen. Sich an die Vorstellung gewöhnen. Warum wollte er nicht, daß Sophia das alles getan hatte? Weil er ihr eines Morgens vor dem Tor begegnet war? Und doch war da die Anklage von Christophe Dompierre, eine Anklage, die einem in die Augen sprang. Christophe. Marc erstarrte. Ging weiter. Blieb stehen. Trank einen Kaffee. Ging wieder weiter.
    Erst gegen neun Uhr abends kehrte er mit leerem Magen und schwerem Kopf in die Baracke zurück. Er betrat das Refektorium, um sich ein Stück Brot abzuschneiden. Leguennec saß dort und unterhielt sich mit dem Paten. Jeder von ihnen hatte ein Blatt Spielkarten in der Hand.
    »Raymond von der Gare d’Austerlitz«, berichtete Leguennec gerade, »ein alter Clochard und Kumpel von Louise, sagt, daß vor mindestens einer Woche, auf jeden Fall war es ein Mittwoch, eine schöne Frau zu ihr gekommen sei. Mittwoch, da ist Raymond sich sicher. Die Frau war gut angezogen, und während sie redete, hat sie ihre Hand an den Hals gelegt. Ich spiele Pik.«
    »Hat sie der alten Louise ein Geschäft vorgeschlagen?« fragte Vandoosler, während er drei Karten ablegte, davon zwei offen.
    »Ganz genau. Raymond weiß nicht, worum es ging, aber Louise hat von einer Verabredung gesprochen und war ›mordsmäßig happy‹. Von wegen Geschäft... Sich in einer alten Karre in Maisons-Alfort verbrennen zu lassen... Arme Louise. Du sagst an.«
    »Ohne Kreuz. Ich passe. Was hat der Gerichtsmediziner gesagt?«
    »Louise paßt ihm schon besser, wegen der Zähne. Er hatte gedacht, daß die das Feuer eigentlich hätten überstehen müssen. Aber verstehst du, die gute Louise hatte nur noch drei im Mund. Das erklärt die Sache. Vielleicht hat Sophia sie deswegen ausgesucht. Ich nehme dein Herz und harpuniere auf Karo-Bube.«
    Marc steckte das Brot ein und packte zwei Äpfel in die andere Tasche. Er fragte sich, was die beiden Bullen gerade für ein seltsames Spiel spielten. Es war ihm egal. Er mußte wieder laufen. Er war noch nicht fertig mit Laufen. Und noch nicht fertig, sich an die Vorstellung zu gewöhnen. Er verließ das Haus und ging an der Westfront vorbei in die andere Richtung der Rue Chasle. Bald würde es dunkel werden.
    Er lief noch gute zwei Stunden. Den ersten Apfelgriebs ließ er auf dem Rand der Fontaine Saint-Michel, den zweiten auf dem Sockel des Löwen von Belfort. Er hatte große Mühe, den Löwen zu erreichen und sich auf seinen Sockel zu schwingen. Es gibt ein kleines Gedicht, das erzählt, wie der Löwe von Belfort nachts in aller Ruhe durch Paris läuft. Da konnte man wenigstens sicher sein, daß es dummes Zeug war. Als Marc wieder auf die Erde sprang, ging es ihm deutlich besser. Er kam mit noch immer schmerzendem, aber schon leichterem Kopf in die Rue Chasle zurück. Er hatte die Vorstellung akzeptiert. Er hatte verstanden. Alles kam ins Lot. Er wußte, wo Sophia war. Er hatte seine Zeit gebraucht.
    Ruhigen Schritts betrat er das dunkle Refektorium. Halb zwölf, alle schliefen. Er machte Licht, füllte den Wasserkessel.
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