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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt
Autoren: Mo Yan
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Ding Gou'er unangenehm, auch wenn er zugeben musste, dass es sich nicht um ein unbilliges Ansinnen handelte. Es war schon Viertel nach zehn, und das eiserne Tor war noch immer mit einem dicken schwarzen gusseisernen Schloss abgesperrt, das aussah wie eine Schildkrötenschale. Fünf an das Tor geschweißte runde Stahlplatten verkündeten in verblichenem Rot: «Sicherheit über alles! Ehre dem Ersten Mai!» Im strahlend hellen Licht des Frühherbstes glänzte alles wie neu. Eine mannshohe graue Ziegelwand folgte den Biegungen und Windungen des Bodens und verlieh ihnen die Eleganz eines ausgestreckten Drachen. Ein kleines Nebentor war verriegelt, aber nicht verschlossen. Ein brauner Wolfshund lag träge ausgestreckt auf dem Boden. Um seinen Kopf kreiste eine Libelle.
    Als Ding Gou'er an dem kleinen Tor rüttelte, sprang der Hund auf. Seine feuchte, verschwitzte Nase hielt nur einen Zentimeter vor dem Handrücken des Ermittlers inne. Vielleicht hatte sie den Handrücken sogar berührt, denn er spürte etwas Kühles wie einen roten Tintenfisch oder eine Lycheenuss. Aufgeregt bellend rannte der Hund davon und suchte Schutz unter einem Indigostrauch im Schatten des Torhauses. Einmal dort angelangt, bellte er immer verzweifelter.
    Der Ermittler schob den Riegel zurück, öffnete das Tor und blieb einen Augenblick an das kalte Metall gelehnt stehen. Er warf dem Hund einen verblüfften Blick zu. Dann sah er auf seine knochige Hand mit den dunklen hervorstehenden Adern herab, deren Blut inzwischen leicht mit Alkohol verdünnt war. Keine sprühenden Funken, kein elektrischer Schlag, warum bist du weggerannt, als ich dich berührt habe?
    Eine Schüssel siedend heißes Waschwasser ergoss sich wie ein bunter Schleier über seinen Kopf. Ein vielfarbiger Wasserfall, ein Regenbogen mit verwaschenen Farben, Seifenschaum und Sonnenschein, Hoffnung und Erwartung. Eine Minute nachdem das Wasser an seinem Körper herabgelaufen war, fühlte er sich kühl und erfrischt. Gut zwei Minuten später fingen seine Augen an zu brennen, und ein salziger und zugleich süßlicher Geschmack wie von Ruß und Schmutz breitete sich in seinem Mund aus. Vorläufig gab der Sonderermittler jeden Gedanken an das Mädchen im Fahrerhaus auf. Vergiss die Lippen wie Wattebäusche! Später sollten sich allerdings alle seine Muskeln einzeln verspannen, wenn er an die Frau dachte, die seine Visitenkarte in der Hand hielt, als betrachte sie eine Berglandschaft im dichten Nebel. Blöde Schlampe!
    «Bist du lebensmüde, du Arschloch?» Fluchend und stampfend stand der Pförtner mit der Waschschüssel in der Hand vor ihm. Ding Gou'er bekam schnell mit, dass die Flüche ihm galten. Er schüttelte das Wasser aus den Haaren, wischte sich den Nacken ab, spuckte aus, blinzelte ein paar Mal und versuchte, sich auf das Gesicht des Pförtners zu konzentrieren. Er sah ein Paar kohlschwarze, stumpfe, düstere Augen verschiedener Größe, eine geschwollene Nase so rot wie Hagebutten und unregelmäßige Zähne hinter dunkel verfärbten Lippen. Heiße Blitze zuckten durch alle Windungen seines Gehirns. Flammen der Wut flackerten auf, als habe jemand tief in seinem Innern ein Streichholz angezündet. Weiß glühende Kohle brannte in seinem Gehirn wie Asche im Backofen, wie Blitzschläge. Sein Schädel wurde durchsichtig. Die Brandung entschlossenen Muts schlug ans Ufer seiner Brust.
    Die struppigen, schwarzen Haare des Pförtners sträubten sich wie ein Hundefell. Zweifellos hatte ihn der Anblick des Ermittlers zu Tode erschreckt. Ding Gou'er konnte sehen, wie die Nasenhaare des Mannes sich wie der Schwanz einer Schwalbe aufrichteten. Wahrscheinlich lebte in seinem Kopf eine bösartige schwarze Schwalbe, hatte dort ihr Nest gebaut, ihre Eier gelegt und ihre Jungen großgezogen. Er zielte auf die Schwalbe und drückte ab … drückte ab … drückte ab …
    Peng … peng … peng!
    Drei Pistolenschüsse zerrissen die Stille vor dem Tor der Zeche Luoshan, bliesen dem zottligen braunen Hund das Lebenslicht aus und ließen die Bauern aufhorchen. Die Lastwagenfahrer sprangen aus ihren Fahrerhäusern, Kiefernnadeln stachen dem Esel in die Lippen. Ein Augenblick unentschiedenen Zauderns, dann stürzten alle herbei. Um zehn Uhr dreißig vormittags ging der Pförtner der Zeche Luoshan zu Boden, noch bevor die Schüsse verklungen waren. Zuckend lag er auf der Erde und hielt sich den Kopf.
    Die kreideweiße Pistole in der Hand und ein Lächeln auf den Lippen, stand Ding Gou'er aufrecht wie eine
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