Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
dass er es nicht mehr aushalten konnte. Auch wenn es ihm schwer fiel, die Augen von dem Knaben zu lassen, öffnete er die Tür und trat hinaus in den tröstlichen kühlen Sonnenschein.
     
    Sonderermittler Ding Gou'er, Jahrgang 1941, war seit 1965 verheiratet und führte eine ganz normale Ehe. Mann und Frau verstanden sich gut und hatten ein Kind gezeugt, einen süßen kleinen Jungen. Ding Gou'er hatte eine Freundin, die manchmal reizend war und manchmal eine richtige Pest. Manchmal war sie wie die Sonne, manchmal wie der Mond. Manchmal war sie eine verführerische Katze, manchmal ein tollwütiger Hund. Die Idee, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, lockte ihn, aber nicht so sehr, dass er es wirklich getan hätte. Mit seiner Freundin zu leben war ein verführerischer Gedanke, aber nicht verführerisch genug, um es wirklich zu tun. Jedes Mal wenn er sich krank fühlte, hatte er Krebsphantasien. Wenn er nur daran dachte, verfiel er in Furcht und Schrecken. Er liebte das Leben bis zum Wahnsinn, aber er war seiner müde. Es fiel ihm schwer, Entscheidungen zu treffen. Oft setzte er die Mündung seiner Pistole an die Schläfe, aber dann senkte er die Waffe wieder. Manchmal spielte er das gleiche Spiel auch vor seiner Brust dicht am Herzen. Eines und nur eines bereitete ihm mit Sicherheit und jederzeit uneingeschränkte Freude: in einem Kriminalfall zu ermitteln und ihn zu lösen. Er war ein erfahrener Ermittler, einer der besten, und genoss einen guten Ruf bei höheren Kadern. Er war 1 Meter 75 groß, hager, dunkel und schielte ein wenig. Er war ein starker Raucher und trank gern, aber er wurde zu schnell betrunken. Er hatte unregelmäßige Zähne und besaß Nahkampferfahrung. Seine Zielsicherheit war wechselnd. Wenn er in guter Stimmung war, war er ein ausgezeichneter Schütze. Wenn nicht, konnte er eine Kuh nicht auf drei Meter Entfernung treffen. Er war in Maßen abergläubisch, glaubte an den Zufall, und das Glück schien ihm gewogen.
     
    Der Leitende Oberstaatsanwalt bot ihm eine Zigarette der Marke Zhonghua an und nahm sich selbst eine. Er zog sein Feuerzeug heraus, gab dem Oberstaatsanwalt Feuer und zündete dann die eigene Zigarette an. Der Rauch in seinem Mund schmeckte nach Butterbonbons, süß und köstlich. Ding Gou'er fiel auf, wie ungeschickt der Oberstaatsanwalt wirkte, wenn er rauchte. Der öffnete eine Schublade, zog einen Brief heraus, warf einen Blick darauf und übergab ihn dem Ermittler.
    Ding Gou'er überflog den hastig hingekritzelten Brief eines Denunzianten. Der anonyme Verfasser hatte seinen Brief mit «Stimme des Volkes» unterzeichnet. Eine offensichtliche Fälschung. Zuerst schockierte ihn der Inhalt; dann kamen ihm Zweifel. Er überflog den Brief noch einmal und konzentrierte sich diesmal auf die Randbemerkungen in der kalligraphischen Schrift eines höheren Beamten, den er gut kannte.
    Er richtete den Blick auf die Augen des Oberstaatsanwalts, der eine Jasminstaude in einem Blumentopf auf dem Fensterbrett ansah. Die zierlichen weißen Blüten verströmten ihren süßen Duft. «Halten Sie das für glaubwürdig?», fragte er. «Meinen Sie, die haben wirklich die Unverschämtheit, Kinder zu schmoren und zu essen?»
    Der Oberstaatsanwalt schenkte ihm ein zweideutiges Lächeln. «Sekretär Wang hat Sie ausgewählt, um das herauszufinden.»
    Aufregung breitete sich in seinem Herzen aus, aber er sagte nur: «Das wäre normalerweise kein Fall für die Staatsanwaltschaft. Was ist mit dem Ministerium für öffentliche Sicherheit los? Schlafen die?»
    «Was kann ich dafür, dass der berühmte Ding Gou'er auf meiner Gehaltsliste steht?»
    Peinlich berührt fragte Ding Gou'er: «Wann soll ich mich auf den Weg machen?»
    «Wann Sie wollen», antwortete der Leitende Oberstaatsanwalt. «Sind Sie eigentlich schon geschieden? Es ist sowieso nur eine Formalität. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass wir alle hoffen, dass kein wahres Wort an der Beschuldigung ist. Aber Sie dürfen zu niemand davon sprechen. Setzen Sie bei Ihrem Auftrag alle notwendigen Mittel ein, soweit das im Rahmen der Gesetze möglich ist.»
    «Kann ich gehen?» Ding Gou'er stand auf, um sich zu verabschieden.
    Der Leitende Oberstaatsanwalt erhob sich ebenfalls und ließ eine unangebrochene Stange Zhonghua-Zigaretten über den Tisch gleiten.
    Ding Gou'er nahm die Zigaretten, verließ das Büro des Leitenden Oberstaatsanwalts, nahm den Fahrstuhl ins Erdgeschoss und verließ das Gebäude. Als Erstes wollte er in die Grundschule gehen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher