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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt
Autoren: Mo Yan
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den Schnee des Frühlings kennen, betrinken sich nicht. Sie sind ein Intellektueller, also können Sie nicht betrunken sein.»
    Die unangreifbare Logik des Arguments überzeugte Ding Gou'er. Er folgte dem Mann über eine Lichtung, die von frisch geschlagenem Holz übersät war. Die stärksten Stämme waren ein paar Meter dick, die dünnsten vielleicht fünf Zentimeter. Kiefer, Birke, Eiche und ein paar Holzarten, die er nicht kannte. Bei seinen geringen Botanikkenntnissen war er erstaunt, dass er so viele erkannt hatte. Das verrottete, verwitterte Holz roch nach Alkohol. Zwischen den Stämmen hatte sich Unkraut ausgebreitet, das schon wieder verwelkte. Eine weiße Motte schwebte träge durch die Luft. Am Himmel schwirrten schwarze Schwalben, die ein wenig angetrunken wirkten. Er versuchte, einen alten Eichenbalken mit den Armen zu umspannen, aber er war zu dick. Als er mit der Faust gegen die dunkelroten Jahresringe stieß, rann schwerer Saft über seine Hand. Er seufzte.
    «Was für ein großartiger Baum das einmal war!»
    «Letztes Jahr hat ein privatwirtschaftlich arbeitender Weinproduzent dreitausend dafür geboten», erzählte Stoppelkopf, «aber wir haben nicht verkauft.»
    «Was wollte er damit?»
    «Weinfässer», sagte Stoppelkopf. «Für erstklassigen Wein braucht man Eichenholz.»
    «Ihr hättet das Holz verkaufen sollen. Es ist bei weitem keine dreitausend wert.»
    «Wir haben nichts für die Privaten übrig. Wir würden den Baumstamm lieber verfaulen lassen, als die Privatwirtschaft zu unterstützen.»
    Ding Gou'er bewunderte innerlich die sture Loyalität, mit der die Zeche Luoshan am System des Volkseigentums festhielt. Ein paar Hunde jagten einander um die Stämme herum. Sie stolperten und rutschten, als seien sie ein wenig verrückt oder betrunken. Der größte sah dem Hund des Pförtners ähnlich, aber nicht allzu ähnlich. Sie sprangen um einen Holzstapel, dann um den nächsten, als wollten sie den Urwald erobern. Im Schatten der großen umgestürzten Eiche wucherten frische Pilze. Abgefallenes Eichenlaub und abgeschälte Rinde verströmten den betörenden Duft von frischem Harz. Auf einem der Stämme, einem gesprenkelten alten Riesen, wuchsen Hunderte von Früchten, die aussahen wie Säuglinge: rosafarben mit gut ausgebildeten Gesichtszügen und heller, ein wenig faltiger Haut. Erstaunlicherweise waren es alles Jungen mit süßen roten Pimmelchen so groß wie Erdnüsse. Ding Gou'er schüttelte sich die Spinnweben aus den Kopf. Geheimnisvolle, geisterhafte, teuflische Schatten flackerten in seinem Schädel auf und drohten ihn zu sprengen. Er machte sich Vorwürfe, weil er so viel Zeit an einem Ort verbrachte, an dem er überhaupt nichts zu suchen hatte. Aber dann überlegte er es sich anders. Ich bin noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden mit dem Fall beschäftigt, dachte er, und schon habe ich einen Weg durch den Irrgarten gefunden. Verdammt tüchtig von mir. Beruhigt folgte er wieder dem jungen Mann mit der Stoppelfrisur. Mal sehen, wohin er mich bringen will.
    Neben einem Stapel Birkenholz stand ein Wald von Sonnenblumen. Sie blickten zur Sonne auf und bildeten einen goldenen Fleck über dem weichen dunkelgrauen Boden. Er atmete den einmaligen süßen und berauschenden Duft der Birke ein, und sein Herz sehnte sich nach den Hügeln im Herbst. Die schneeweiße Birkenrinde klammerte sich, immer noch feucht, immer noch frisch, ans Leben. Wo die Rinde geplatzt war, konnte man frisches Holz erkennen, als wolle der Baumstamm beweisen, dass er immer noch wuchs. Eine hellblaue Grille kauerte auf der Birkenrinde, als wolle sie sagen: «Wage nur, mich zu fangen!» Der junge Mann mit dem Stoppelhaar sagte mit unverhohlener Erregung:
    «Sehen Sie die Reihe von roten Backsteingebäuden hinter dem Sonnenblumenwald? Dort werden Sie unseren Zechendirektor und unseren Parteisekretär finden.»
    Anscheinend gab es etwa ein Dutzend derartiger Backsteingebäude mit roten Dachziegeln unter dem Grün und Gold eines Waldes von dickstämmigen, breitblättrigen Sonnenblumen, die der reiche Sumpfboden ernährte. Unter den hellen Strahlen der Sonne strahlte das Gelb besonders hell. Als Ding Gou'er die bezaubernde Landschaft betrachtete, überfiel ein nahezu rauschartiger Schwindel seinen ganzen Körper, sanft, träge, schwer. Er löste sich aus seinem Schwindel, aber inzwischen hatte sich Stoppelkopf in Luft aufgelöst. Er sprang auf einen Stapel von Birkenholz, um einen besseren Überblick zu gewinnen, und fühlte sich
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