Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
um nach seinem Sohn zu sehen. Dazu musste er die weithin berühmte Allee des Sieges überqueren. Der endlose Strom von Automobilen schien nicht abzureißen. Also wartete er. Auf der anderen Straßenseite stellte sich eine Gruppe von Kindergartenkindern vor dem Fußgängerübergang auf. Mit ihren sonnenbeglänzten Gesichtern sahen sie aus wie ein Beet voll Sonnenblumen. Etwas zog ihn zu ihnen hin. Fahrräder huschten vorbei wie sich schlängelnde Aale. Die Gesichter der Radfahrer waren nur als weiße Schatten zu sehen. Die Kinder trugen bunte Sonntagskleider. Ihre Gesichter waren rund und zart, und in den Augen stand ein Lächeln. Sie hielten sich an einem dicken roten Seil fest wie Fische an der Angel oder Obst auf einem Spieß. Die Abgaswolken, die sich um sie sammelten, glitzerten im Sonnenlicht wie Holzkohle und füllten die Luft mit ihrem Geruch. Die Kinder sahen aus wie ein marinierter und gewürzter Lammspieß. Die Kinder sind die Zukunft der Nation, ihre Blüten, ihr Schatz. Wer würde es wagen, sie zu überfahren? Die Autos hielten an. Was hätten sie schon sonst tun sollen? Motoren heulten auf, Fehlzündungen knatterten, während die Kinder die Straße überquerten. Kopf und Schwanz der Schlange bildeten zwei Frauen in weißen Uniformen. Sie hatten Vollmondgesichter, scharlachrote Lippen und scharfe weiße Zähne. Man hätte sie für Zwillinge halten können. Sie zogen das Seil straff und sorgten energisch für Ordnung.
    «Haltet euch am Seil fest! Nicht loslassen!»
    Ding Gou'er stand unter einem Baum mit gelben Blättern am Straßenrand. Die Kinder hatten die Straße überquert und seine Seite erreicht. Schon rasten wieder Wogen von Autos vorbei. Die Kinderschlange begann sich zu winden und zu biegen. Die Kleinen zwitscherten wie eine Schar Spatzen. Rote Bänder, um ihre Handgelenke geschlungen, waren an dem roten Seil befestigt. Sie standen nicht mehr gerade in einer Reihe, aber sie waren immer noch fest an das Seil gebunden, und die Frauen mussten nur energisch ziehen, um wieder eine gerade Reihe zu schaffen. Ihre Rufe «Haltet euch am Seil fest! Nicht loslassen!» machten ihn wütend. Was für eine Scheiße! Wie sollten sie denn loslassen, wenn sie festgebunden waren?
    An den Baum gelehnt fragte er kühl eine der Frauen:
    «Warum bindet ihr sie fest?»
    Sie warf ihm einen eisigen Blick zu.
    «Vollidiot!», sagte sie.
    Die Kinder schauten ihn an.
    «Voll – i – diot», skandierten sie im Chor.
    Sie artikulierten Silbe für Silbe so sorgfältig, dass er sich nicht darüber klar werden konnte, ob das Ganze spontan oder sorgfältig einstudiert war. Ihre dünnen, hellen Stimmchen erhoben sich wie aufflatternde Vögel. Idiotisch lächelnd nickte er der Frau am anderen Ende der Schlange entschuldigend zu. Sie würdigte ihn keines Blicks. Er folgte der Kinderschar mit den Augen, bis sie in einer Nebenstraße zwischen zwei hohen roten Mauern verschwand.
    Es war ein harter Kampf, aber schließlich schaffte er es, die andere Straßenseite zu erreichen. Dort sprach ihn ein Straßenhändler aus Xinjiang, der gegrillte Lammspieße verkaufte, im schweren Akzent seiner Heimat an. Das Angebot reizte ihn nicht, aber ein Mädchen mit langem Hals blieb stehen und kaufte zehn Stück. Rot geschminkte Lippen wie heiße Chilischoten. Sie tauchte die Spießchen mit dem fettig brutzelnden Fleisch in die Pfefferdose und sperrte, um ihren Lippenstift zu schonen, beim Essen den Mund so weit auf, dass man die Zähne sah. Mit brennender Kehle wandte er sich ab und ging weiter.
    Ein wenig später stand er vor der Grundschule, rauchte eine Zigarette und wartete auf seinen Sohn. Der rannte mit dem Ranzen auf dem Rücken aus dem Tor, ohne seinen Vater zu bemerken. Er hatte blaue Tintenflecken im Gesicht, das Kennzeichen des künftigen Gelehrten. Er rief seinen Sohn beim Namen. Der Junge begleitete ihn widerwillig. Er erzählte ihm, dass er beruflich nach Jiuguo musste.
    «Na und?»
    Ding Gou'er fragte seinen Sohn, was «Na und?» heißen solle.
    «Na und heißt na und. Was soll ich denn sagen?»
    «Na und? Schon richtig. Na und?», wiederholte er den Kommentar seines Sohnes.
     
    Ding Gou'er betrat das Büro der Sicherheitsabteilung des Parteikomitees der Zeche, wo ihn ein junger Mann mit Stoppelfrisur begrüßte, einen mannshohen Aktenschrank öffnete, ein Schälchen mit Schnaps füllte und es ihm anbot. Auch dieser Raum war mit einem großen Ofen ausgerüstet und überheizt, wenn auch nicht ganz so schlimm wie das Torhaus. Ding
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher