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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt
Autoren: Mo Yan
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Krüppelkiefer da. Grüne Rauchschwaden wehten aus dem Pistolenlauf, stiegen über seinem Kopf auf und verwehten im Morgenwind.
    Verblüfft drängten sich die Leute vor dem Drahtzaun. Die Zeit schien stillzustehen. Dann rief jemand mit schriller Stimme:
    «Hilfe! Mord! … Der alte Lü, der Pförtner, ist erschossen worden!»
    Ding Gou'er. Krüppelkiefer. Dunkelgrün.
    «Der alte Köter war ein übler Typ.»
    «Du kannst ja versuchen, ihn an die Feinschmeckerabteilung der Akademie für Kochkunst zu verkaufen.»
    «Der alte Hund ist zu zäh.»
    «Die Feinschmeckerabteilung nimmt nur zarte kleine Jungen, keine abgestandene Ware wie ihn.»
    «Dann bringt ihn in den Zoo und füttert die Wölfe mit ihm.»
    Ding Gou'er warf die Pistole in die Luft und ließ sie wie einen silbernen Spiegel im Sonnenlicht tanzen. Er fing sie wieder auf und zeigte sie den Leuten, die sich am Tor drängelten. Es war eine exquisite kleine Waffe mit der eleganten Linienführung eines erstklassigen Revolvers. Er lachte.
    «Regt euch nicht auf, Freunde! Es ist bloß eine Spielzeugpistole.»
    Er legte den Sicherungshebel um, und der Lauf öffnete sich. Er zog eine dunkelrote Plastikscheibe heraus und zeigte sie allen. In jedem Loch der Plastikscheibe lag eine kleine Papierzündkapsel. «Wenn man auf den Abzug drückt», sagte er lächelnd, «dreht sich die Scheibe, der Hammer schlägt auf die Zündkapsel auf, und peng! Es ist ein Spielzeug. Man kann es als Theaterrequisite verwenden. Man kann es in jedem Warenhaus kaufen.» Er setzte die Scheibe wieder ein, ließ den Lauf einschnappen und zog den Abzug durch.
    Peng!
    «So geht das», rief er im Tonfall eines Straßenverkäufers.
    «Wenn ihr mir nicht glaubt, seht her!» Er zielte mit der Pistole auf den eigenen Jackenärmel und drückte ab.
    Peng!
    «Das ist der Verräter Wang Lianju», rief ein Fahrer, der die revolutionäre Oper Die rote Laterne gesehen hatte.
    «Es ist keine echte Pistole.» Ding Gou'er hob den Arm und zeigte sie ihnen. «Seht her! Wäre sie echt, hätte mein Arm jetzt ein Loch. Oder etwa nicht?» Auf seinem Jackenärmel war ein runder Brandfleck zu sehen, von dem sich der stechende Geruch von Schießpulver in die helle Luft erhob.
    Ding Gou'er steckte die Pistole wieder in die Tasche, ging auf den Pförtner zu, der immer noch auf dem Boden lang, und versetzte ihm einen Tritt.
    «Steh auf, du alter Schwindler», sagte er. «Du kannst aufhören, uns etwas vorzuspielen.»
    Der Pförtner stand auf. Er hielt sich immer noch mit beiden Händen den Kopf. Sein Gesicht war so fahl wie ein weiß glasierter Neujahrskuchen.
    «Ich wollte dich nur erschrecken», sagte Ding Gou'er. «Ich hätte nie eine richtige Kugel an dich verschwendet. Du kannst aufhören, dich hinter deinem Hund zu verstecken. Es ist nach zehn Uhr. Du hättest das Tor schon lange aufmachen sollen.»
    Der Pförtner ließ die Hände sinken und blickte sie nachdenklich an. Er wusste nicht, was er glauben sollte, strich sich noch einmal über den Kopf und betrachtete wieder seine Hände: kein Blut. Wie ein Mann, der soeben dem sicheren Tod entronnen ist, atmete er hörbar auf und fragte immer noch verwirrt:
    «Du da, was willst du?»
    Mit verschlagenem Lachen sagte Ding Gou'er:
    «Ich bin der neue Bergwerksdirektor. Die Stadtverwaltung hat mich hergeschickt.»
    Der Pförtner lief zum Torhaus und kam mit einem glänzenden gelben Schlüssel wieder, mit dem er das Tor schnell und geräuschvoll öffnete. Die Menge machte sich wieder auf den Weg zu ihren Fahrzeugen, und in Sekundenschnelle dröhnte der Platz vom Geräusch frisch angelassener Motoren.
    Eine Flutwelle eng aneinander gedrängter Lastwagen und Ochsenkarren strömte langsam, aber unaufhaltsam auf das Tor zu, das jetzt offen stand, und quälte sich hindurch. Der Ermittler sprang beiseite. Beim Anblick dieser abscheulichen Raupe, die mit ihren zahllosen sich windenden und schiebenden Segmenten an ihm vorüberzog, überfiel ihn eine merkwürdige, gewaltige Wut. Der Wut folgten Krämpfe am Darmausgang. Gereizte Blutgefäße begannen schmerzhaft zu pochen, und er wusste, dass es seine Hämorrhoiden waren, die sich wieder einmal meldeten. Aber diesmal würde er die Ermittlung mit oder ohne Hämorrhoiden durchführen, genau wie damals in der guten alten Zeit. Der Gedanke dämpfte seine Wut und milderte sie ein wenig. Dem Unvermeidbaren kannst du nicht entgehen. Weder den Wirren der Massen noch deinen Hämorrhoiden. Nur der heilige Schlüssel zur Lösung ist ewig. Aber was
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