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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin
Autoren: Lena Falkenhagen
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drangen ein paar wenige Geräusche, vielleicht von den Mönchen und Heilern, die unermüdlich die Verletzten behandelten.
    Was hatte Madelin aufgeweckt? Waren es die ersten Strahlen der Morgensonne, die an diesem fünfzehnten Oktober am östlichen Horizont tanzten? War es jene unerklärliche Stille, die stets mit der Dämmerung, dem Wechsel von Tag und Nacht einherging? Oder, schoss es ihr durch den Kopf, hatte eine der Wachen auf den Resten der Mauer einen Warnruf ausgestoßen? Griff der Feind erneut an? Wenn ja, dann würde Madelin einfach hier sitzen bleiben und beobachten, was geschah, ungeachtet der Tatsache, dass die Einfallspforte des Feindes genau vor ihr lag. Doch alles blieb still.
    Sie wollte gerade den Kopf wieder auf die angewinkelten
Knie legen, um weiterzuschlafen, da wankte eine Gestalt durch das Tor des Augustinerklosters herein. Nein, korrigierte sich Madelin, es waren sogar zwei Gestalten, die sich aneinander festklammerten. Beide schienen kaum mehr geradeaus laufen zu können. Jetzt brach einer der Männer zusammen, und der andere blieb schwankend stehen, um ihm aufzuhelfen - vergebens.
    Madelin konnte das nicht mit ansehen. Sie seufzte und streckte probeweise ihre kalten Glieder. Langsam brachte sie das Blut in ihrem Körper wieder zum Fließen. Sie schob sich auf die Beine und ging den beiden Männern auf tauben Füßen entgegen.
    Auf halber Strecke stutzte sie. Die schlanke, sehnige Gestalt, das wirre blonde Haar - konnte das etwa … »Lucas?«, fragte sie und erschrak über ihre raue Stimme. Tatsächlich - der Mann drehte ihr den Kopf zu. »Madelin?«
    Die junge Frau stolperte vorwärts, so schnell sie konnte, und schloss die Arme um den Geliebten. Er fühlte sich kalt an und schwankte. Sie roch Blut, verbranntes Haar, verbranntes Fleisch. Doch er legte den Arm um sie und schmiegte sein Gesicht in ihre Schulterbeuge.
    »Lucas«, flüsterte sie erstickt und konnte endlich weinen. »Du lebst!«
    »Und du auch«, murmelte er so leise, dass sie es kaum hören konnte.
    »Bist’ verletzt?«, fragte sie und versuchte, in dem schummrigen Licht etwas zu erkennen - zumindest sein Ärmel war dunkel von getrocknetem Blut. »Komm, du musst ins Lazarett. Die Mönche können dir sicher helfen.«
    »Georg Hofer«, flüsterte Lucas schwach und sah auf den Gefährten. »Ihn hat’s schlimmer erwischt.« Er schluckte, die Tränen flossen nun frei über seine Wangen. »Wir sind eingeschlossen
worden. Und die Explosion …« Sie spürte, wie er bei der Erinnerung kurz zitterte. »Hätte Hofer nicht seine Schaufel gehabt, wären wir da nie herausgekommen.«
    »Wir bringen euch beide hinein«, murmelte Madelin liebevoll.
    Gemeinsam gelang es ihnen, den Verletzten hochzuhieven und zur Kirchenhalle des Klosters zu schleppen. Dort legten sie ihn auf einen der freien blutverschmierten Tische.
    Madelin tastete nach Lucas’ Rücken. Sie wollte ihn berühren, wollte spüren, dass er lebte. Vorsichtig half sie ihm, sich auf eine Bank zu setzen, dann rief sie Hilfe herbei.
    Als ein müde aussehender Physicus sich um Lucas’ Wunden kümmerte, schlugen die Glocken von Sankt Stephan an. Der Wahrsagerin fiel selbst gar nicht auf, was an dem Geläut absonderlich war. Erst als sich auf Lucas’ Gesicht ein erleichtertes Lächeln ausbreitete, ahnte sie, dass es eine Bedeutung haben musste. »Hörst du das?«, fragte er sie.
    »Sicher, die Glocken läuten.« Nun fiel der würdige Klang von Sankt Peter mit ein. »Das haben sie schon lange nicht mehr getan.«
    »Seit die Osmanen den Ring um Wien geschlossen haben, sind außer der Primglocke keine Glocken mehr angeschlagen worden«, murmelte der Student.
    »Und wenn sie jetzt läuten …« Madelin fühlte die Erleichterung wie einen frischen Wind aufziehen. »Die Osmanen ziehen ab«, flüsterte sie.
    »Ja.« Lucas drückte ihre Hand. »Sie ziehen ab.«
    Als Madelin dieses Mal Tränen über ihre Wange laufen spürte, da waren es Tränen der Freude.

EPILOG
    G anz Wien feierte am Morgen des fünfzehnten Oktober auf den Stufen von Sankt Stephan den Sieg über die Osmanen. Schalmeien und Flöten wurden gespielt, die Trommeln gerührt, gesungen, getanzt und gelacht. Die Strahlen der Sonne offenbarten, was die Glocken angekündigt hatten: Der Feind brach sein Lager ab. Die Artillerie und das schwere Gepäck zogen als Erste ab, und nach und nach wurde das riesige Heerlager vor den Toren der Stadt verpackt.
    Bald wagten sich kecke Landsknechtsrotten in die verlassenen Lager der Türken.
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