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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin
Autoren: Lena Falkenhagen
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wer ihn hörte, gehorchte. Mehmed steckte den Säbel zwischen die Zähne, sprang zu den Zinnen empor und zog sich das letzte Stück mit den Armen hinauf. Er sah kaum, wohin er sprang - doch er schwang sich darüber und landete sicher auf den Füßen.
    Da stand plötzlich ein Soldat vor ihm, der Kleidung nach ein Spanier. Er war ebenso überrascht wie der Osmane und riss die Arkebuse herum. Mehmed griff ihm in die Waffe und hieb ihm die Faust ins Gesicht - und der Mann stolperte rückwärts. Als er sich wieder gefangen hatte, trug Mehmed bereits den Säbel in der Faust, sprang ihm nach und rammte ihm zielsicher die Waffe in den Unterarm, dort, wo die Rüstung aufhörte. Der Mann öffnete mit schmerzverzerrtem Blick den Mund, als wolle er noch etwas sagen, dann kippte er zur Seite. Mehmed ließ ihn auf den Wehrgang fallen, zog ihm die Waffe aus dem weichen Fleisch und stieß ihn mit dem Fuß von der Mauer.
    Er blickte sich hastig um und sah, dass ihn kein weiterer Feind bedrohte. Der Staub begann, sich langsam zu legen, und auch der Pulverdampf wurde dünner. Selbst die Büchsen krachten nicht mehr so oft. Er schaute zurück. Das Meer der Janitscharen wollte kein Ende nehmen; sie stürmten auf die beiden großen Breschen zu, die mittlerweile in der Stadtmauer Wiens klafften - die eine wie eine offene Wunde, die andere provisorisch von den Wienern verschlossen. Mit einem Blick auf die Stadt erkannte er, dass im Gegensatz zu dem Heer des Sultans die Zahl der Verteidiger lächerlich gering schien. Doch Mehmed wusste, man brauchte zur Erstürmung einer Festung nur einen Bruchteil der Männer, die man zur Verteidigung benötigte. Die Männer in Wien verdienten seinen Respekt - sie hatten mehrfach Mut und Kampfeswillen bewiesen.

    Zum Schluss sah Mehmed hinüber zu den Örtlichkeiten, die ihm Ibrahim Pascha angewiesen hatte. Er musste sich ein wenig orientieren, doch dann fand er die Burg, die Michaelskirche sowie den offenen Platz in einer direkten Linie hinter dem Augustinerkloster, das direkt vor ihm an der Mauer lag.
    Mehmed erstarrte. Keine Staubwolke verbarg die Sicht dorthin, kein Geschrei, Gewimmer oder Geheule drang ihm entgegen. Von hier oben hatte er sogar einen recht guten Blick auf den Platz nahe der Burg. Dort herrschte kein Chaos. Die zweite, dritte und vierte Reihe der Verteidigung Wiens stand dort, bereit, die gefallenen Kameraden zu ersetzen. Waren denn die Minen unter den Plätzen nicht explodiert? Der Donner war laut genug gewesen!
    Mehmed hatte am Kriegsrat teilgenommen, der vor zwei Tagen von Ibrahim Pascha einberufen worden war. Alle fünf Sprengladungen hätten etwa gleichzeitig gezündet werden sollen, zumindest hatte der Großwesir das verkündet und ihn, Mehmed, besonders gelobt, weil er den Plan durch das Trionfi-Spiel erst möglich gemacht hatte. Das Fußvolk war wie immer der Kern des Angriffs. Die Janitscharen rückten in drei Haufen an. Die Hälfte der Reiter sollte für den Sturm bereitstehen. Doch dieser Plan baute zentral darauf, dass die ersten Reihen der Verteidiger starben und keine neuen nachrücken konnten. Wenn aber die beiden nahen Alarmplätze des Feindes nicht durch die Minen gesprengt worden waren, fiel ihr Schlachtplan in sich zusammen wie ein Zelt ohne Stützpfosten.
    Wie erwartet hielten die Verteidiger mit ihren Kanonen gegen. Besonders die schweren Geschütze auf dem wieder aufgebauten Kärntner Turm richteten einen verheerenden Schaden unter den Fußsoldaten an. Einige wandten sich zur Flucht, wurden aber von Reitern mit Säbeln angetrieben. Doch bei den Fliehenden konnte es sich wohl kaum um Janitscharen des
Sultans handeln, sondern vermutlich um Lehnsmänner irgendeines Schahs.
    Nun legte sich der Staub auch in den Gassen direkt hinter der Mauer. Mehmed schmeckte ihn auf der Zunge, er war angereichert mit Pulverdampf. Sein Mund war trocken, und er musste husten. Er sah, wie die Männer des Sultans einer um den anderen in die Piken der Landsknechte liefen, gegen die sie mit ihren Säbeln machtlos waren. Auch wurde er gewahr, wie an mancher Stelle Janitscharen durch die Bresche drangen, nur um dann unter den Schwertern der Reiter zu fallen. Er war Zeuge, wie seine Brüder starben, wieder und wieder, gefällt von den Verteidigern Wiens, die mit verbissenen Mienen keinen Fußbreit Boden preisgaben. Mehmed sah, dass auch der vierte Sturm auf die Stadt scheitern würde, so wie die drei zuvor. Der Goldene Apfel würde nicht fallen. Ibrahim Pascha, und mit ihm Sultan Süleyman,
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