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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin
Autoren: Lena Falkenhagen
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herunter, dann machte er ihr widerwillig Platz.
    Als Madelin das Haus verließ und in die Sonne trat, fühlte sie sich wie neugeboren. Mit der Wahrheit über den Vater war eine Last von ihren Schultern gefallen. Dafür hatte sie eine Mutter verloren. »Nein«, korrigierte sie sich leise. »Ich habe nie eine besessen.«
    Auf dem Hohen Markt hielt sie inne und sah sich um. Die Strahlen der matten Oktobersonne tauchten Wien in ein goldenes Herbstlicht. Der Atem gefror ihr vor den Lippen, und sie fröstelte.
    Plötzlich rollte ein weiterer Donner über die Stadt, eng gefolgt von einem zweiten. Madelins Herz setzte einen Schlag aus. Zwei weitere Minen, die explodiert waren, wie es schien beim Augustinerkloster.
    Lucas.
    Madelin dachte nicht weiter nach. Sie konnte nicht warten, ob Lucas nach Hause zurückkehren würde. Sie raffte ihre Röcke und lief durch die Stadt. Er war am Leben. Ganz bestimmt. Lucas musste am Leben sein! Erst als sie um Luft rang, bemerkte sie die Tränen, die ihr die Wangen hinunterliefen.

KAPITEL 27
    D er Staub der Explosionen legte sich nur langsam zwischen den zerschossenen Mauern Wiens, die wie zerklüftete Zahnstummel in die Höhe ragten. Doch sie boten immerhin noch Deckung gegen die Arkebusen und Vierzigpfünder der Verteidiger.
    Mehmed trieb seine Männer an. »Denkt an die tausend Aspern, die der Sultan uns zahlt! Denkt an die Reichtümer und die Speisen, die ihr euch kaufen könnt. Oder denkt an die Freuden des Paradieses, wenn ihr denn müsst. Aber kämpft!«, schrie er.
    Und die Janitscharen kämpften. Sie erstürmten den Wall der Stadtmauer, die jetzt kaum noch Schutz bot. Die Bresche war so lang, dass hundert Männer nebeneinander kämpfen konnten. Und bei Allah, heute würden sie endlich gewinnen.
    Mehmed selbst hatte die Entscheidung für den vierten Sturm, die Großwesir Ibrahim Pascha getroffen hatte, für leichtsinnig, ja unverantwortlich gehalten. Einzig die Tatsache, dass ihnen der Plan der Stadt einen weiteren Vorteil verschaffte, hatte ihn im Vorfeld beruhigt. Nun, da er mit Tausenden von Männern vor der Lücke stand, glaubte er selbst daran, dass sie heute den Sieg erringen konnten. Die Mauer war bereits zerstört, weitere Minen würden unter dem Neuen Markt und dem Platz vor der Burg explodieren, um Niklas Graf Salms Nachschub für die Verteidigung der Breschen abzuschneiden.
    Mehmed fühlte, dass etwas in der Luft lag - etwas Verheißungsvolles, vielleicht sogar etwas wie eine Zukunft. Zumindest aber war es ein Versprechen. Er dachte an das Trionfi-Spiel,
das ihm durch seine Tochter zugesandt worden war, während er mit seinen Männern vorwärtsstürmte, den Wall hinauf, zur Mauer hin. Er hatte den Schlüssel darauf sofort erkannt und gewusst, wie man die Ziffern umrechnen musste, um die nötigen Distanzen im Stadtbild zu berechnen.
    Seine Tochter. Sie hatte in der kurzen Begegnung bewiesen, dass sie ihrer Eltern Kind war - klug, schön und stark zugleich. Sie ließ sich nichts vormachen und wusste, schwere Entscheidungen zu treffen. Mehmed hoffte, dass sie ihm vergeben würde, wenn Wien erst einmal gefallen war. Und er betete, dass er selbst die Kraft in sich finden würde, Elisabeth zu vergeben.
    Eine nie ganz erloschene Flamme war wieder aufgelodert, als er das Trionfi-Spiel in Augenschein genommen hatte, das ganz ähnlich dem war, das er Elisabeth einst als Zeichen der Liebe und des gemeinsamen Schicksals überreicht hatte. Er hatte die Botschaft verstanden und sofort begriffen, dass sie zu ihm zurückkehren wollte. Dennoch hatte er gezögert, alles überprüft, weil er ihr misstraut hatte. Inzwischen wusste er, dass Elisabeth es ehrlich meinte.
    War es närrisch, daran zu glauben, dass sie wieder vereint sein konnten - nach zwanzig Jahren? Sie waren nicht mehr dieselben Menschen, kannten einander kaum noch. Und doch fand er noch immer dasselbe Gefühl in seinem Herzen, das dort vom Tag ihrer ersten Begegnung an gewohnt hatte. Es mochten die Empfindungen eines Narren sein, doch sie fühlten sich richtig an.
    Die Elitesoldaten des Sultans stürmten wagemutig den Wall empor, hinein in die Wolke aus Pulverdunst und Staub. Sie feuerten eine Salve, warfen die Büchsen weg und liefen voran, um sich mit dem Säbel in der Hand dem Feind zu stellen. Man sah hier unten kaum noch die Hand vor Augen.
    Mehmed sprang über die Steinbrocken hinweg, auf ein großes
Trümmerstück der Mauer, das wie eine schiefe Rampe vor ihm lag. Er rief seinen Männern zu, es ihm gleichzutun, und
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