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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin
Autoren: Lena Falkenhagen
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Herrscher ungläubig an. Das war alles?
Deshalb waren mehrere Tausend Wiener aus der Stadt geflohen und sicher genauso viele Soldaten herbeigezogen worden? Wenn der Krieg geführt worden wäre, weil der Sultan ebenso sehr von seinem Gott überzeugt war, wie Kaiser Karl und Erzherzog Ferdinand von ihrem, wenn er die Christen auslöschen oder unterwerfen und bekehren wollte, dann ergäbe er wenigstens einen Sinn!
    »Ihr seid auf Wien marschiert, nur weil Ihr es konntet?«, fragte er ungläubig.
    »Weil ich ein Mann bin«, gab Süleyman lächelnd zurück. »Das Erobern fremder Länder liegt uns im Blut. Findest du nicht auch?«
    Der Bannerträger lehnte sich zurück. Ihm war in den letzten Tagen das Bedürfnis nach Krieg vergangen - und zwar für immer. Er dachte an Graf zu Hardegg, der lernen hatte müssen, dass eine Schlacht nicht immer ehrenhaft geführt wurde. Er dachte an Albert von Kempff, dessen Leib woanders verrottete als sein Kopf. Und er dachte an Anna, die schöne Witwe, die ihm in so kurzer Zeit so sehr ans Herz gewachsen war.
    Der Sultan wies auf die Schale mit dem Obst. »Noch ein paar Trauben? Sie sind köstlich.«
    Christoph schüttelte den Kopf. Er hatte keinen Hunger mehr.
     
    Das Weinen und Jammern in den Lazaretten war unerträglich. Immer wieder schweiften Madelins Blicke über die Lager aus Stroh und Decken, auf denen die Verwundeten lagen. Keines der schmerzverzerrten Gesichter konnte sie erkennen. Sie wandte sich ab und ging hinaus.
    Dies war das dritte Haus, das sie durchsuchte, und noch immer gab es keine Spur von Lucas. Erschöpft lehnte sie sich gegen die Mauer des Augustinerklosters und atmete ein paarmal
durch. Als sie sich wieder auf den Weg machte, sah sie sich im Hof um, wo weitere Männer in Decken gehüllt an den Feuern saßen. Dies waren die weniger schwer Verwundeten.
    Die Verheerung, die die Minen am Mauerwerk angerichtet hatten, schien grenzenlos. Die Bresche hatte beinahe die ganze Mauer beim Augustinerkloster und Teile des Gebäudes in einen riesigen Trümmerhaufen verwandelt. Sogar das kleine Türmlein an der Mauer war halb gesprengt worden und klaffte nun wie ein zahnloses Maul über den Steinen. Der Boden davor sah aus, als hätte sich die Erde aufgebäumt. Eilige Hände waren im Begriff, die Mauer wieder zu schließen, denn man konnte nicht sicher sein, dass die Osmanen nicht morgen früh zurückkehren würden.
    Die schmale Mondsichel stand kaum mehr sichtbar am Himmel. Madelin empfand sie beinahe als Symbol ihrer schwindenden Hoffnung. Sie hatte den halben Tag und die halbe Nacht nach Lucas gesucht. Dabei hatte sie alle Bergknappen aus Schwaz befragt, die sie finden konnte. Und alle sagten dasselbe: Lucas war mit Georg Hofer in die Gänge gen Augustinerkloster gestiegen. Seitdem hatte niemand etwas von den beiden gesehen oder gehört. Die einhellige Meinung war, dass sie nicht mit dem Leben davongekommen sein konnten.
    Doch Madelin wollte davon nichts wissen. Sie hatte sich gesagt, wieder und wieder, dass Lucas es geschafft haben musste. Dass er am Leben war. Dass er zu ihr zurückkommen würde.
    Inzwischen war es bestimmt nach Mitternacht. Die Wahrsagerin zog frierend ihren Umhang enger um sich. Sie war müde und ausgelaugt, fror bis auf die Knochen. Ihre Zehen fühlte sie kaum noch, genauso wenig wie die Nasenspitze. Madelin ließ ihren Blick erneut über die Männer im Innenhof schweifen und wandte sich dann ab. Die Enttäuschung drohte, sie zu übermannen.

    Doch die Kälte war nichts im Vergleich zu der Leere, die sie in ihrem Innern fühlte. Ihr kam es vor, als hätte sie ihr halbes Leben lang auf der Straße gelebt. Sie wusste, wie man mit Verzweiflung und Not umging. Doch der Gedanke daran, Lucas nie wiederzusehen, obwohl sie ihn kaum drei Wochen kannte, fühlte sich so unwirklich an, als fehle ihr ein Gliedmaß.
    Madelin sank an der Innenmauer des Augustinerklosters kraftlos zu Boden. Sie zwang sich, den Krater direkt anzusehen. Als ihre Gliedmaßen so kalt waren, dass sie sich kaum mehr bewegen konnte, gestand sich die junge Frau endlich ein, dass sie hier nicht saß, weil sie trauern wollte. Sondern weil sie immer noch hoffte; wider jeden Verstand hoffte, dass Lucas noch am Leben war.
     
    Die Wahrsagerin musste eingeschlafen sein. Verwirrt öffnete sie die Augen und sah sich um. Der Hof des Augustinerklosters lag noch in nächtliche Schatten gehüllt vor ihr. Alles war still, die Verwundeten schliefen an den niedergebrannten Feuern. Aus dem Innern der Kirche
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