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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers
Autoren: Lia Norden
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dass ich nicht viel mehr von ihr erinnerte als ihre Fähigkeit, sich mit Lippenstift, Lidschatten und Wimperntusche in eine Frau zu verwandeln. Dorit, klein, schmal und bleich, wie ein Gespenst. Und ich. The Leader of the Gang. Unzufrieden mit allem und jedem. Hart gegen mich und alle anderen.
    An jenem Tag im Café hatte ich das Mädchen so intensiv angesehen, dass sie schließlich die Augenbrauen gerunzelt und mir einen genervten Blick zugeworfen hatte. Ich hatte ihr entschuldigend zugelächelt, dann war ich aufgestanden, war nach Hause gegangen und hatte mich an die Arbeit gemacht. Ich schrieb zwei Monate am Stück, rauchte Kette, trank ab zwölf Uhr mittags und verließ das Haus nur, um Zigaretten und Wein zu kaufen. Ich aß wenig, ignorierte das Telefon und den Sommer draußen vor der Tür. Ich ignorierte auch die leise Stimme, die mich warnen wollte. Ich schrieb mein erstes gutes Buch.
    Fabienne, Marie und Dorit standen in meinem Zimmer, während ich schrieb, blickten mir morgens aus dem Badezimmerspiegel entgegen, huschten am Fenster vorbei und kicherten hinter den Mülltonnen.
    Diesmal ging es nicht um eine nette Chaos-Frau auf der Suche nach dem Mann fürs Leben. Diesmal gab es keine amüsanten Freundinnen und witzigen Wortplänkeleien. Diesmal ging es um die Wahrheit. Um das echte Leben.
    Nun lag das Buch seit einigen Wochen in den Läden, und endlich war alles so, wie es sein sollte. Ich gab Interviews. Ich war in der Zeitung. Morgen würde ein Radioreporter kommen, und heute Vormittag hatte meine Agentin angerufen, mit jeder Menge Anfragen für Lesereisen. Ich hasste Lesereisen. Jedenfalls so, wie sie bisher zwischen Bielefeld, Braunschweig und Karlsruhe abgelaufen waren: Mittelklassehotels, kleine Buchhandlungen, zweite Klasse Bahnfahrt … aber auch das würde sich nun ändern. Die Maschinerie lief.
    «Sommer der Sünde» – den Titel hatte sich der Verlag ausgedacht, ich fand ihn grauenvoll, aber niemand außer mir störte sich an ihm.
    Es war ein guter Tag. Ich vertändelte die Zeit, kaufte mir ein Paar sehr teure Schuhe und eine Flasche Champagner. Am späten Nachmittag setzte ich mich mit meinem Laptop auf den schattigen Balkon, suchte nach neuen Kritiken und beantwortete ein paar Mails. Alles war perfekt. Als der Champagner leer und ich betrunken genug war, um ins Bett zu gehen, bekam ich noch eine Freundschaftsanfrage über Facebook:
    Hallo, Hanna! Hab mir heute Dein Buch gekauft. Bin gespannt! Falls Du nicht mehr weißt, wer ich bin: Mathe, 10 . Klasse. Du hast immer von mir abgeschrieben :-)
    Wohne noch immer in Beerenbök.
    Gruß, Annkathrin.
    PS . Weißt Du, dass Dorit tot ist? Tragische Umstände. Ihr wart doch so eng, damals, Du, sie, Fabienne und Marie.
    Ich las das PS ein zweites Mal und konnte es immer noch nicht glauben. Es war zu absurd. Dorit konnte nicht tot sein. Sie hatte mich doch angerufen. Das war doch erst … Wie lange war das her? Eine Woche? Zwei? Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was sie gesagt hatte und was ich. Sie hatte gedrängt und gefleht, es war schrecklich gewesen. Auch meine Härte ihr gegenüber war schrecklich gewesen, aber es war, wie es war: Ich hatte abgeschlossen mit der Vergangenheit, ich war durch damit, ich hatte alles aufgeschrieben und verstanden. Auch als Dorit zu weinen begann, war ich hart geblieben. «Du bist noch viel hartherziger, als ich je geglaubt hatte!», hatte sie schließlich geschrien. «Aber man kann nicht weglaufen, man kann es einfach nicht! Du wirst schon sehen! Eines Tages wirst du das sehen müssen!» Sie hatte aufgelegt, ohne meine Antwort abzuwarten. Ich hätte ohnehin keine gehabt.
    Es gab tausend Dinge, an denen Menschen plötzlich und unerwartet starben. Sie starben ständig und überall, aber sie brachten sich nicht um wegen eines unguten Telefonats. Niemand erhofft sich Rettung von einem Gespräch mit jemandem, den er jahrzehntelang nicht gesehen hatte. Niemand, der auch nur ansatzweise bei Sinnen ist. Aber war Dorit das gewesen? War sie jemals bei Sinnen gewesen?
    Ohne nachzudenken, mailte ich Annkathrin zurück:
    «Was für ‹tragische Umstände›?»
    Ich saß bis weit nach Mitternacht auf dem Balkon und wartete vergeblich auf eine Antwort.

[zur Inhaltsübersicht]
    MARIE
    Himmel, warum hatte ich nicht auf das Display geguckt? Oder zumindest auf die Uhr! Schließlich hätte ich mir doch denken können, wer mich zu dieser denkbar ungünstigen Zeit – eine halbe Stunde vor dem Mittagessen – anrief! Warum hatte ich das
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