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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers
Autoren: Lia Norden
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unter halb geschlossenen Lidern. Katzenaugen. Hanna lauerte so gespannt auf meine Reaktion, als wäre ich ein interessantes Versuchstier, dem man soeben eine winzige Nadel in den Rücken gepikst hatte und jetzt abwartete, wie, wann und wo genau der Schmerz einsetzte.
    Um die Sache noch schlimmer zu machen, hatte Fabienne versucht, die Situation auf ihre Gutmensch-Tour, die sie manchmal an den Tag legte, zu retten. «Wieso? Marie sieht doch auch nett aus!»
    «Nee, also das finde ich auch!» Das war Dorit gewesen, eifrig wie immer.
    «Ja, klar, aber im Vergleich zu Katharina …» Hanna ließ nicht locker. «Das ist bestimmt nicht leicht für dich, oder, Marie?»
    Nein, leicht war es ganz bestimmt nicht gewesen für mich.
    Aber irgendwann wusste ich mich zu wehren.

[zur Inhaltsübersicht]
    FABIENNE
    Dieser Sommer war unerbittlich. Der Rasen in meinem Garten war mittlerweile verdorrt wie nach einem Steppenbrand. Die Erde grau und steinhart, und überall dort, wo der Strahl des Gartenschlauches nicht mehr hinreichte, waren die Blumen verblüht und die Sträucher schon fast entlaubt. Ich liebte meinen Garten, aber ich hatte nicht die Zeit, mit der Gießkanne herumzulaufen, um die Natur an ihrem frühen Sterben zu hindern.
    Als das Telefon klingelte, war ich gerade dabei, die Markise zu reparieren, die schon seit Tagen klemmte und sich nicht mehr ausrollen ließ. Auf meiner Terrasse stand die Hitze wie eine Wand.
    Es war meine Tante, die anrief, was sie sonst nie tat. Das letzte Mal hatte ich mit ihr vor drei Monaten gesprochen, anlässlich meines Pflichttelefonats an ihrem Geburtstag. Ich hörte ihre Stimme, und ich wusste im selben Moment, dass sie Unheil verkünden würde.
    «Fabienne», sagte sie, wobei sie meinen Namen so betonte, dass er sich auf «Henne» reimte, etwas, das sie seit über vierzig Jahren machte, um zu demonstrieren, wie überkandidelt sie den französischen Namen fand, den meine Eltern für ihr norddeutsches Kind ausgesucht hatten. «Fabienne, ich weiß, dass ich störe. Du hast sicher jede Menge um die Ohren.»
    «Ich bringe nur ein paar Sachen am Haus in Ordnung. Seit gestern hab ich Urlaub.»
    «Urlaub? Sehr gut.» Ich hörte, wie Tante Hiltrud mit leicht asthmatischem Pfeifen Luft holte. «Weshalb ich anrufe: Die arme Dorit ist gestorben, du wirst dich noch an sie erinnern.»
    Da war es, das Unheil. Ich legte die Zange, die ich noch immer in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch und ließ mich auf den glühend heißen Gartenstuhl sinken. Mir war schwindelig, als hätte mich die Hitze ganz plötzlich überwältigt. Dorit war tot. Die arme Dorit. Ertrunken. Niemand wusste genau, was eigentlich passiert war. Warum erzählte meine Tante mir das alles? Warum rief sie mich deshalb an? Dorit war ein Schatten aus meiner Vergangenheit. Mehr nicht. Beerenbök spielte in meinem Leben schon längst keine Rolle mehr – bis vor zwei Wochen, als ich Hannas unsäglichen Roman gelesen hatte. Ich hatte das Buch in den Müll geworfen, doch das war kindisch und sinnlos gewesen.
    Ich wusste, dass ich Dorit nie wieder loswerden würde. Egal, wie tot sie war. Tote können auf eine grausame, unerbittliche Art mächtiger sein als wir Lebenden.
    «Fabienne? Hörst du mir überhaupt zu?»
    Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, was meine Tante von mir wollte. Sie hatte mich nicht nur angerufen, um mir zu erzählen, dass meine alte Schulfreundin ertrunken war. Ich sollte die Trauerrede halten. Ausgerechnet ich. Es fehlte nicht viel, und ich hätte hysterisch losgekichert.
    «Das geht nicht, Tante Hiltrud.» Ich versuchte, ruhig zu bleiben und die Panik zu ignorieren, die in mir aufstieg. «Für Beerenbök ist eine andere Pfarrerin zuständig oder ein Pfarrer.»
    «Aber Dorit war gar nicht mehr in der Kirche. Du sollst einfach nur eine schöne und würdige Feier gestalten, Fabienne. Das kannst du doch, das ist doch dein Beruf.»
    Eine schöne und würdige Feier. Ich holte tief Luft. «Das ist
nicht
mein Beruf», antwortete ich. «Wie du weißt, bin ich evangelische Pfarrerin und keine Eventmanagerin für Todesfälle. Wieso kümmerst du dich eigentlich darum? Was hast du mit Dorit zu tun?»
    «Ich habe lediglich versprochen, mit dir zu reden. Wir alle im Dorf packen mit an.» Tante Hiltrud machte eine kleine bedeutungsvolle Pause. «Du weißt doch, dass Dorits Mutter sich nicht selber darum kümmern kann, oder?»
    Ich antwortete nicht auf diese Frage. Natürlich wusste ich es, und meine Tante wusste genau, dass ich es
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