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Die Schatten eines Sommers

Die Schatten eines Sommers

Titel: Die Schatten eines Sommers
Autoren: Lia Norden
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Klingeln nicht einfach ignoriert und meine Mutter auf den Anrufbeantworter quasseln lassen? Dann hätte ich mich zum hundertsten Mal darüber aufregen können, dass sie sich nicht mal da kurzfassen konnte, sondern die ganze Mailbox vollredete, bis nichts mehr drauf ging. Manchmal hatte ich ohnehin das Gefühl, Mama redete lieber mit dem AB als mit mir persönlich. Da gab’s wenigstens keine unliebsamen Unterbrechungen, nicht mal ein halblaut gemurmeltes «Jaja» konnte hier ihren unermüdlichen Redefluss stoppen.
    Aber leider war ich automatisch drangegangen, als das Telefon geläutet hatte, und dann gab es kein Entrinnen mehr – vor meiner Mutter und ihrem Redefluss. Ihren «wahnsinnig wichtigen» Neuigkeiten, die zumeist niemanden interessierten als sie selbst und vielleicht die Damen in ihrem Bridge-Club.
    «Na, hast du ein Minütchen, Marie?»
    Die übliche Eingangsfrage. Mama stellte sie nur pro forma. Sie erwartete keine Antwort und schon gar keine Gegenwehr. Sie erwartete, dass ich ihr zuhörte, und das tat ich dann auch stets, zumindest mit halbem Ohr.
    «Du glaubst es nicht, Marie!»
    Auch dieser Satz gehörte zu Mamas Standardrepertoire. In den seltensten Fällen war tatsächlich mit weltbewegenden Neuigkeiten zu rechnen. Eher mit Mitteilungen über eine ihrer Bridge-Schwestern, die zum dritten Mal geheiratet hatte.
    Zumeist interessierte mich der Klatsch aus meinem in der Erinnerung immer blasser werdenden Heimatort nicht im Geringsten. Aber das sagte ich natürlich nicht. Dazu war ich viel zu höflich und viel zu gut erzogen. DAS hatte Mama wirklich gut hingekriegt. Deswegen sagte ich auch jetzt, was von mir erwartet wurde: «Was gibt’s denn, Mama?»
    Ich hörte meine Mutter Luft holen. Sie bereitete sich darauf vor, mir ihre Neuigkeit zu präsentieren, und kostete dabei jede Sekunde aus. Ich spürte es genau, aber ich tat ihr nicht den Gefallen, noch einmal nachzuhaken. Ich wartete einfach. Sie sagte ja doch, was sie sagen wollte.
    «Du, die Katharina ist wieder schwanger!», platzte Mama endlich heraus. «Deine große Schwester bekommt ihr viertes Kind! Mit vierundvierzig! – Was sagst du jetzt?»
    Ich schnappte unwillkürlich nach Luft, spürte den kleinen Stich in der Herzgegend, nicht stark, nicht lähmend, aber doch schmerzhaft. Schmerzhaft vertraut.
    «Na, so was», sagte ich lahm und ließ mich auf einen Küchenstuhl sinken. Meine Hände glitten fahrig über die verrutschte Tischdecke. Sie musste gewaschen werden. Die Ketchup-Flecken waren nicht richtig rausgegangen.
    «Nicht wahr?» Meine Mutter war jetzt in ihrem Element. Sie brannte darauf, weitere Details loszuwerden. «Natürlich war das Baby nicht geplant.» Sie lachte glucksend, verschwörerisch, in diesem Ganz-unter-uns-Frauen-Ton, den ich nicht ausstehen konnte. Wenn ich jetzt nicht dazwischengrätschte, würde sie mir etwas über die ungebrochen hohe Beischlaffrequenz meiner Schwester und meines Schwagers erzählen. Das musste ich unbedingt verhindern.
    «Freut sie sich denn?», fragte ich deshalb.
    Mama nahm sich ein wenig zusammen. «Na ja, zuerst war es natürlich ein Schock. Ich meine, in Katharinas Alter wird man ja nicht mehr so mir nichts dir nichts schwanger, oder? Da geht es bei anderen ja schon auf die Wechseljahre zu.»
    Ich zuckte zusammen. Blitzschnell durchforstete ich mein Gedächtnis. Hatte ich meiner Mutter etwa in einem Anfall geistiger Umnachtung von meinen unregelmäßig werdenden Regelblutungen erzählt? Kaum denkbar!
    «… aber jetzt freuen sich Frank und sie wie verrückt», jubelte Mama ins Telefon. «Und die Kinder sind sowieso ganz begeistert. Besonders Julchen. Endlich ist sie nicht mehr die Kleinste. Sie hat Katharina schon versprochen, das kleine Brüderchen ganz oft spazieren zu fahren.»
    «Brüderchen? Wissen sie denn schon, dass es ein Junge wird?»
    Für einen Moment hatte ich Mutter aus der Fassung gebracht. «Was? Ja, also, ich weiß nicht. Aber ich denke schon, Katharina hat so etwas gesagt. Würde doch auch schön passen, oder? Zwei Jungs, zwei Mädchen – ein richtiges Quartett! Absolut perfekt!»
    Ja, in der Tat, perfekt … Mit dem Fingernagel malte ich möglichst exakte Kreise um die Flecken auf der Tischdecke, absolut perfekt. Wie alles bei Katharina perfekt war: Das Haus am Stadtrand, ihr gutaussehender, charmanter Ehemann, aufstrebender Oberarzt an der Uniklinik, sie selber ebenfalls promovierte Medizinerin, drei süße Kinderlein, die Katharina tagein, tagaus fröhlich lachend zwischen
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