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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars
Autoren: Frank W. Haubold
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Fackel angezündet und am Heck des Bootes befestigt. Ihr zuckendes Licht spiegelte sich auf der Oberfläche des Wassers. Obwohl Martin nur einen schwachen Windhauch spürte, füllten sich die Segel rasch mit Luft, und das Boot nahm Fahrt auf.
    »Keine Sorge, es dauert nicht lange«, versicherte der Fremde, und wie zur Bestätigung versank der schmale Streifen Land hinter ihnen im Dunkel, während die Barke Kurs auf das andere Ufer nahm.
    Das bernsteinfarbene Leuchten wurde heller, aber noch verbargen dichte Nebelschwaden das Ziel der Überfahrt.
    »Was ist das?« erkundigte sich Martin, während sie weiter auf die seltsame Lichterscheinung zusteuerten, deren gewaltige Ausmaße allmählich offenbar wurden. Sie nahm jetzt die gesamte Breite des jenseitigen Ufers ein und verlor auch in der Höhe kaum an Helligkeit.
    »Die Stadt«, erwiderte die maskierte Gestalt im Heck des Schiffes. »Wir sind gleich da.« Die Stimme klang irgendwie verändert, nicht mehr so selbstbewußt. Es schien, als flöße das leuchtende Etwas seinem Begleiter Respekt oder gar Unbehagen ein.
    Noch einmal tauchte das Boot in eine Nebelbank, die Martin für Sekunden die Orientierung nahm, dann lag die Stadt vor ihnen.
    Martin besaß Videoaufnahmen des historischen Manhattan, er kannte die Innenstadt von Boston; einmal war er sogar mit seinen Eltern in San Francisco gewesen. Doch nichts, was er in seinem zwölfjährigen Leben gesehen hatte, hätte ihn auf diesen Anblick vorbereiten können.
    Es war weder die Höhe der einzelnen Gebäude – wenn es sich bei den leuchtenden Gebilden überhaupt um Gebäude handelte – noch ihre architektonische Gestaltung, die die Faszination der Stadt ausmachten. Die terrassenförmig angelegten Kristallstrukturen vermittelten vielmehr die Illusion einer riesigen Freitreppe, die sich vom Ufer des schwarzen Flusses bis hinauf in schwindelnde Höhen erstreckte. Wo die Treppe schließlich endete, falls sie überhaupt irgendwo endete, blieb dem Betrachter durch den Dunst in der Höhe verborgen. Es gab keine Laternen oder sonstige Lichtquellen; das bernsteinfarbene Leuchten schien eine Eigenschaft des Materials zu sein, aus dem die einzelnen Stufen bestanden.
    Im Näherkommen erkannte Martin, daß die Stufen in regelmäßigen Abständen von dunklen Schneisen unterbrochen waren – Straßen oder Wegen, die im Schatten lagen. Allerdings bemerkte er weder Menschen noch Fahrzeuge, so daß die Stadt trotz ihrer Lichtfülle einen verlassenen Eindruck machte.
    Obwohl zahlreiche Boote an der Kaimauer festgemacht hatten, war keine Menschenseele im Hafen oder in den aufwärts führenden Gassen zu sehen. Allem Anschein nach hielten sich die Bewohner der Stadt im Inneren der Gebäude auf, oder es existierten weitere, vielleicht unterirdische Transportsysteme, mit deren Hilfe sie sich innerhalb des weiträumigen Areals fortbewegen konnten.
    Doch all diese Erwägungen verloren für Martin ihre Bedeutung, als er die Musik hörte. Vielleicht hatte sich der Wind gedreht, vielleicht hatte sie auch gerade erst begonnen, die Wirkung war in jedem Fall überwältigend.
    Die Stadt sang.
    Anders ließ sich der Eindruck nicht beschreiben. Die Töne schienen aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen, und die Melodie klang auf seltsame Weise vertraut. Die Stadt sang mit tausend Stimmen, kraftvoll und einschmeichelnd zugleich, und der Junge verspürte nur einen Wunsch: mehr davon zu hören. Er vergaß den dunklen Fluß, das Boot und den Jungen mit der Maske; er vergaß seine Eltern, die Freunde und sogar seinen eigenen Namen.
    Auf dem Weg zum Ufer schob sich die Barke vorbei an Dutzenden, vielleicht sogar Hunderten leerer Boote, doch Martin bemerkte nichts davon.
    Die Stadt sang für ihn. Das war keine Vermutung, sondern Gewißheit. Er war angekommen, und die Stadt war darüber genauso glücklich wie er selbst.
    Martins Augen schwammen in Tränen, in denen sich das Licht brach wie in einem Kaleidoskop. Als sich die leuchtenden Kristalle zu drehen begannen, wurde ihm ein wenig schwindelig, und er schloß die Augen.
    »Du wirst zurückkommen, Marty«, sagte eine Stimme wie aus weiter Ferne.
    Die Stadt sang lauter und die Stimme verstummte.
    Ich träume, dachte Martin, als das Schwindelgefühl übermächtig wurde. Noch einmal öffnete er die Augen. Die Türme und Zinnen der Stadt strahlten jetzt heller, als hätte jemand das unsichtbare Feuer in ihrem Inneren noch einmal angefacht. Und dann sah er, daß da doch jemand auf der Kaimauer stand und ihm
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