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Die scharlachrote Spionin

Die scharlachrote Spionin

Titel: Die scharlachrote Spionin
Autoren: Andrea Pickens
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richtigen Hände legen.«
    »Ja. In die richtigen Hände.« Der Marquis sprach so leise, dass das Zischen der glühenden Kohlen ihn beinahe übertönte.
    Die Direktorin nahm sich einen Augenblick Zeit, um die Feder zu spitzen. »Ich denke, wir sollten Sofia zu uns rufen.«
    Dieses E-Book wurde von der "Osiandersche Buchhandlung GmbH" generiert. ©2012

2. Kapitel
    S ofia wischte einen Krümel Schießpulver von ihrer Hirschlederhose und setzte sich auf die hölzerne Bank vor dem Privatzimmer der Direktorin. Die dunkle Wandvertäfelung und der Steinfußboden boten dem Blick einer ängstlichen Schülerin wenig Ablenkung. Denn hinter der Aufforderung, zum Rapport bei der Direktorin zu erscheinen, steckte niemals nur der Wunsch nach einem reinen Höflichkeitsbesuch. Üblicherweise ging es um ernste Störungen des Schulbetriebs - und um Disziplinarstrafen, Arrest, Tadel. Oder die Entlassung stand bevor, weil man sich den strengen Anforderungen an die Ausbildung nicht gewachsen gezeigt hatte.
    Sie atmete tief durch und berührte die Tätowierung über ihrer linken Brust. Nur wenige Schülerinnen hatten es überhaupt jemals in die Meisterklasse geschafft und das kleine schwarze Abzeichen erhalten, den Falken, der sie als echten Merlin auszeichnete. Den übrigen vertraute man die weniger anspruchsvollen Verpflichtungen an; die jungen Frauen dienten England, indem sie rund um den Globus Augen und Ohren aufsperrten.
    Konnte es sein, dass Mrs. Merlin und der Marquis an ihren Fähigkeiten zweifelten? Vielleicht wollte Lord Lynsley seine verblümten Worte als freundliche Warnung verstanden wissen? Obwohl seine ernste Miene nur selten irgendwelche Gefühle zu erkennen gab, glomm in den blauen Augen immer ein Fünkchen Wärme, wenn er den Blick über die Schülerinnen schweifen ließ. Schließlich war er es gewesen, der sie alle ausgesucht hatte - dürre kleine Waisenkinder, die sich in den Armenvierteln herumtrieben -, und er hatte ihre Entwicklung über viele Jahre beobachtet. In mancher Hinsicht war er wie der Vater, den keine unter ihnen jemals kennengelernt hatte.
    Habe ich ihn etwa enttäuscht? Unwillkürlich überlegte Sofia, ob die Tatsache, dass man in jüngster Zeit größeren Wert auf ihre Ausbildung zu einer Lady gelegt hatte, sich ungünstig auf ihre kriegerischen Fähigkeiten auswirkte. Sie schaute aus dem Fenster nach draußen, wo sich die Fechtböden, die Ställe, die Schießstände und Übungsgelände so weit erstreckten, wie das Auge blicken konnte. Ein Merlin musste jedem Mann im Kampf gewachsen sein, sei es mit Waffen oder im Handgemenge. Vielleicht zweifelten die Direktorin und der Marquis an ihrer Entschlossenheit. Vielleicht wollten die beiden sie sogar aus ihrer Ausbildung entlassen?
    Sofia beruhigte ihre Nerven, indem sie an ihrer Halskette unter dem verschwitzten Hemd herumnestelte. Die filigrane Kette war neu, erstanden bei einem Ausflug zu den extravaganten Läden in der Bond Street, aber das goldene Medaillon war schon in ihrem Besitz, seit ... seit sehr langer Zeit.
    Mit den Jahren hatte sich Patina über das flache Etui gelegt: Die Gravur war kreuz und quer mit Kratzern überzogen, die schwache Kontur eines Großbuchstabens unleserlich. Sofia gefiel der Gedanke, es könnte ein S sein, das einst auf das kostbare Metall graviert worden war. Aber um welchen Buchstaben auch immer es sich handeln mochte - in schwierigen Zeiten hatte ihr das Medaillon als Talisman gedient. Als Glücksbringer. Es hatte sie sicher durch die rauen Straßen geleitet; es hatte ihr bei der schwierigen Gewöhnung an das Leben in der Akademie geholfen.
    Sofia zog es aus dem Hemd, öffnete das abgegriffene kleine Etui und betrachtete das Porträt. Die Farbe war mit den Jahren verblasst, hatte die Gesichtszüge verschwimmen lassen, das Lächeln, die schwarzen lockigen Haare, die das feine Gesicht umrahmten; und doch hatte sich das Bild unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingeprägt. Jede Einzelheit kannte sie auswendig. Als sie noch ein Kind gewesen war, hatte sie sich eine Ähnlichkeit zwischen der jungen Lady und sich selbst eingebildet. Und jetzt?
    Ihr meergrüner Blick löste sich von dem Bildnis. Es war nicht besonders klug, sich den Kopf über kindliche Träumereien zu zerbrechen. In der Akademie hatte sie gelernt, dass man stets praktisch und pragmatisch denken musste. Leidenschaftslos. Gefühle hatten keinen Platz, wenn es darum ging, seinen Pflichten nachzukommen. Es spielte keine Rolle, woher sie kam, sondern einzig und
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