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Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Titel: Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers
Autoren: Christian Ritter
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nur im Ausnahmefall dabei gestört werden. Frau Rottenbauer gehört genauso zum Supermarkt wie Annette und ich, sie hat sogar die älteren Rechte. Keine Ahnung, wie lange sie schon zum Lesen vorbeikommt, ich weiß nur über die letzten siebzehn Jahre Bescheid. Wenn sich mal – was selten genug vorkommt – ein Ortsfremder in unseren Laden verirrt, ist er meist erst einmal von ihr abgeschreckt. Aber das ist schnell vergessen, wenn sie von ihrem Stühlchen zu ihm aufsieht, die Lesebrille abnimmt und mit der Frage »Wofür interessieren Sie sich?« beratend tätig wird. Frau Rottenbauer hat eine sehr gute Menschenkenntnis. Bei manchen Lkw-Fahrern sagt sie auch schon mal direkt »Die Praline ist ganz oben rechts, der Pleebo daneben«, mit »Pleebo« meint sie den Playboy . Frau Rottenbauer animiert eher zum Kauf, als dass sie einschüchtert, sie ist fachkundig und kompetent und bekommt deshalb nach Geschäftsschluss, wenn sie zum zweiten Mal am Tag vorbeischaut, das Gemüse geschenkt, das wir sonst wegwerfen müssten. Was sie zwischen zwölf und achtzehn Uhr macht, weiß ich nicht. Dafür weiß ich, dass sie Blumenkohl sehr gerne mag.
    Jetzt ist alles an seinem Ort. Die neuen Waren in den Regalen, Annette an der Wursttheke, Frau Rottenbauer vor den Zeitungen und Zeitschriften, ich an der Kasse. Das Tagesgeschäft kann losgehen. Frau Oberhaid ist heute die Erste.
    »Guten Morgen, Frau Oberhaid«, begrüße ich sie mit einem Lächeln.
    »Der Paul, freundlich wie immer« sagt sie.
    Sie wird für 20,76 Euro einkaufen. Das macht sie jeden Tag.
    Freitag, 20.15
    Ich bin etwas nervös. Herr Müller ist nicht da. Unentschuldigt. Er hat nicht angerufen, um mir zu sagen, dass er später kommt oder irgendwas. Das ist gar nicht seine Art. Eigentlich möchte ich ihn nicht anrufen, das ist mir zu teuer; vielleicht um halb. Wir haben auf dem Hof keinen Handyempfang. Klar. Im Umkreis von zwanzig Kilometern ist da nichts außer Wald und Wiesen und Feldern, nur für uns baut die Telekom – oder wer das macht – keinen Funkmast auf. Aber wir haben einen Festnetzanschluss! Und natürlich Handys, aber nur für unterwegs. Ich kann den exakten Punkt benennen, an dem der Handyempfang verschwindet, wenn ich nach Hause fahre. Aber danach wird bei Wer wird Millionär wahrscheinlich nie gefragt werden.
    Es muss schwerwiegende Gründe haben, dass Herr Müller nicht anwesend ist. Vielleicht hat er sich verletzt. Vielleicht im Fitness First Forever . Ich stelle mir das grauenhaft vor, so ein Fitnessstudio an sich. Tatsächlich kann ich es mir auf alle Arten und Weisen vorstellen, denn ich habe noch nie eines von innen gesehen. Meine Vorstellung variiert zwischen der Weight-Watchers-Gruppe, die auf Laufbändern einem von der Decke baumelnden Schokoriegel hinterherrennt und den Boden zu einem See transpiriert, und ultragutdraufen, ultrasehnigen jungen Damen und Herren, die sich selbst »Girls« und »Boys« nennen und einen dazu animieren wollen, Powerdrinks mit Mango zu kaufen und immer »Hey« schreien und sich High fives geben, wenn sie sich treffen …
    »Hey, Thorsten, na, auch hier?«
    »Klaro, Konny, ’ne Runde irgendwas stemmen (aufbauen/dehnen) und den flotten Bienen hinterherpfeifen.«
    »Hey, wir mit unseren muskulösen Bodys können uns das erlauben, HAHA !«
    » HAHAHAHA !«
    »Hey, kennst du schon den neuen Drink mit Mango-Coconut-Kiwi-Flavour? Prosit und High five!« Und so weiter.
    Ich bezweifle jedenfalls, dass Herr Müller dort eine gute Figur macht. Mit seiner Figur kann man einfach keine gute Figur machen, egal wo. So einen Muskelriss hat man sich ja auch schnell eingefangen, sagt man, oder ein Gewicht auf dem Hals beim Bankdrücken. Das ist mir alles zu viel Risiko.
    Wir waren schon mal bei Wer wird Millionär im Publikum, Herr Müller und ich, das war 2007. Ein ganzes Jahr mussten wir auf die Karten warten. Als Kandidat geht das schneller, sagt man. Als wir dann dort waren, war es ein Riesenerlebnis. Günther Jauch hat uns sogar eine Autogrammkarte gegeben – persönlich! Wir konnten uns nur leider nicht allzu sehr in die Sendung einbringen. Zweimal gab es die Publikumsabstimmung, da durften wir immerhin drücken. Damals hat es den Zusatzjoker, bei dem ein Einzelner im Publikum aufstehen, die Antwort geben und 500 Euro gewinnen kann, leider noch nicht gegeben. Wir wären sonst bei jeder Frage aufgestanden.
    Relativ oft sind wir uns einig, dass die Fragen doch sehr einfach sind und die Kandidaten eben einfach fehlplatziert oder
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