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Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Titel: Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers
Autoren: Christian Ritter
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nicht auf natürliche Art fester wird. Ich finde, das Alter muss man nicht nur dadurch respektieren, dass man im Bus aufsteht, sondern auch dadurch, dass man ihm und seinen Erscheinungen freien Lauf lässt. Ich bin immerhin schon Mitte dreißig. In meinem Beruf muss ich auch nicht sonderlich viel rennen.
    Herr Müller knipst weiter konzentriert an seinen Fußnägeln herum. Beim großen Zeh braucht er drei Ansätze, schließlich fliegt der Nagelstreifen in einer kleinen Ellipse in die Hühnersuppenschale.
    »Herr Müller?!«, sage ich mahnend.
    Herr Müller antwortet seiner Mentalität gemäß: »Das ist mein Haus!«
    Die Diskussion ist beendet, wir hören die 16 000-Euro-Frage.

    »Das Übliche«, sagt Herr Müller. Ich sage »Jawoll«. »Das Übliche« ist gleichbedeutend mit »Antwort C«, denn C ist statistisch gesehen die häufigste richtige Antwort. Nur bei den niedrigen Fragen mit den Sprachspielen ist es öfter D als C. Herr Müller und ich sind Experten, und Bayern gehört »Mein Kampf«, an beidem gibt es keinen Zweifel. Die Kandidatin weiß das dummerweise nicht. Sie nimmt den Telefonjoker und ruft ihre ehemalige Geschichtslehrerin an. Die ist über siebzig und glaubt, die USA hielten die Rechte, »zu achtzig Prozent«. Tja. Herr Müller und ich beschimpfen die Telefonfrau und überhaupt den Berufsstand des Lehrers ausgiebig und bemitleiden die an sich ganz sympathische Kandidatin. Herr Jauch hat aber einen guten Tag und rät ihr dazu, noch ihren letzten Joker zu nehmen, Fifty-Fifty. Es bleiben der Freistaat Bayern und Gregor Gysi übrig. Die Kandidatin entscheidet sich für Gregor Gysi, geht mit 500 Euro nach Hause und wird nicht gefragt, welches Auto sie sich zulegen will.
    »Die hat es aber wirklich verdient, die dumme Gans«, sagt Herr Müller. »Schnuckelig ist sie trotzdem.«
    Ich stimme stumm nickend zu.
    Freitag, 7.40
    Über meinem Supermarkt steht nur »Supermarkt«. Mein Supermarkt ist es nun nicht direkt, aber ich arbeite hier, seit ich achtzehn bin, da gewöhnt man sich. Ich wünsche Frau Rottenbauer vor der Tür einen guten Morgen, sperre auf und von innen wieder zu, Öffnung ist erst um acht. Annette ist schon da und plaudert hinten mit dem Obst- und Gemüselieferanten. Dass sie ein bisschen in ihn verschossen ist, weiß außer ihr selbst nur ich, behauptet sie immer. Ich musste auf das Grab meines Hundes schwören, dass ich es niemandem weitererzähle, vor allem nicht dem Lieferanten. Logisch. Ich glaube aber, er hat mittlerweile selbst eine kleine Ahnung bekommen. Annette quittiert zunächst die Ware und dann alle seine geistreichen Aussagen mit schulmädchenhaftem Gekicher.
    »Das ist aber heute auch ein Sauwetter, Mann Mann Mann.«
    »Hihihihihi.«
    »Ich muss langsam weiter, sonst faulen mir die Kartoffeln weg.«
    »Hihihihihi.«
    »Bis morgen dann, Frollein.«
    »Hihihihihi.«
    Ich sortiere derweil die Presse ein, das geht heute schnell, freitags kommt kein Wochenblatt raus. In die Fächer kommen die BILD , zweihundert Exemplare, die Süddeutsche, vierzig Exemplare, unsere Zeitung aus der Region, hundertvierzig Exemplare, die WELT , zehn Exemplare, die FAZ , zehn Exemplare, und die taz, zwei Exemplare, eines für Herrn Dr. Fischer und eines zum freien Verkauf, geht meistens zurück.
    Annette ist wie immer nach dem Besuch des Obst- und Gemüselieferanten schwer beschwingt und trällert mir einen »wuhundervollen guten Mohorgen« entgegen, bevor sie sich daranmacht, die Preise der Joghurts und anderer Milchprodukte, die heute ihr Mindesthaltbarkeitsdatum überschreiten, per Edding herunterzusetzen.
    Es ist acht Uhr. Ich gehe zur Tür, um zu öffnen und Frau Rottenbauer hereinzulassen. Frau Rottenbauer ist fast unsere älteste Kundin, nur Frau Wasserzell mit ihren achtundneunzig Jahren macht ihr den Posten streitig, aber unsere treueste Kundin ist sie auf jeden Fall. Wobei man sie eigentlich nicht als Kundin im engeren Sinn bezeichnen kann, denn sie kauft nur sehr selten etwas. Sie ist eher Inventar. Jeden Tag campiert sie ab 7.30 Uhr auf ihrem Klappstuhl vor dem Geschäft und wartet auf die Öffnung, bei Regen hat sie einen Schirm dabei, heute also auch. Wenn es zwei Minuten länger dauert mit dem Öffnen, klopft sie auch mal an die Scheibe und krakeelt: »Acht Uhr ist schon durch.« Darf sie dann herein, nimmt sie ihren Stuhl mit, positioniert sich auf ihm vor den Zeitungen und Zeitschriften und liest für die nächsten vier Stunden sehr aufmerksam alle Neuerscheinungen durch. Sie darf
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