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Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Titel: Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers
Autoren: Christian Ritter
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verzweifelt, dass Herr Müller noch kommt. Bald. Wir sind jetzt schon bei 64 000 Euro, und es ist kurz vor neun. Günther Jauch liest die Frage vor.

    Ziemlich einfach, finde ich. Nicht dass ich Philipp von Schulthess kennen würde, aber durch das Ausschlussverfahren bleibt nur eine Antwort, hundert Prozent. Herr Müller würde das Gleiche sagen. Der Kandidat macht große Augen und bestätigt auf Nachfrage seine absolute Ahnungslosigkeit. »Kino ist nicht mein Fachgebiet«, sagt er. Nachdenken, Junge! Man muss kein einziges Mal im Kino gewesen sein, um das zu wissen. »So ein Vollidiot«, sage ich in den leeren Raum. Günther Jauch nickt gerade knautschig, und ich interpretiere das als Zustimmung.
    Das Haustürschloss knackt. Ich spüre eine große Erleichterung, gleichzeitig kommt aber auch Wut auf. Es prickelt und brodelt in mir. Wie kann er es wagen, nicht pünktlich zur Sendung zu Hause zu sein? Was denkt er sich eigentlich? Wenn ich das machen würde, müsste ich mir eine ordentliche Standpauke anhören. Ich regle den Ton ein bisschen runter und hoffe darauf, dass Herr Müller wenigstens einen schlimmen Autounfall hatte und ich ihn stöhnen und röcheln höre, während er sich in den Flur schleppt und aus drei offenen Wunden blutet. Diese Entschuldigung würde ich vorbehaltlos akzeptieren, allerdings nur diese Entschuldigung! Doch statt Stöhnen und Röcheln erklingt eine hohe Frauenstimme. Was ist da los?
    »Jetzt gibt’s gleich Schimpfe für mich«, sagt Herr Müller. »Das Wohnzimmer ist gradeaus.«
    »Folgen Sie dem Straßenverlauf für die nächsten fünf Meter«, sagt die Frauenstimme.
    Ihre Schritte nähern sich. Ich stecke mein T-Shirt in die Jogginghose und setze mich aufrecht hin, um einen guten ersten Eindruck zu machen. Die Chips verstecke ich unter einem Sofakissen.
    »Sie haben Ihr Ziel erreicht«, sagt die schöne, hellblonde Frau, als sie hereinkommt.
    Herr Müller direkt hinter ihr sieht mich flehend an und sagt: »’tschuldige.«
    Ich gebe mich völlig gelassen, stehe auf und reiche der Unbekannten die Hand.
    »Hallo, ich bin Paul«, sage ich. Wir sind fast gleich groß, ich vielleicht zwei Zentimeter größer.
    »Hier riecht es komisch«, sagt sie.
    »Die Antwort ist A«, sagt Herr Müller nach kurzem Blick auf den Fernseher. »Das ist Katja«, fügt er hinzu.
    Katja nimmt endlich meine Hand und nickt nur. Sie ist höchstens zwanzig, schätze ich. Sie sieht sich im Raum um, sagt »Biegen Sie jetzt rechts ab« und setzt sich auf Herrn Müllers Sofa rechts von mir.
    »Katja möchte die Stimme in den Tom-Tom-Navigationsgeräten werden«, sagt Herr Müller.
    »Oder im iPhone, wenn das nicht klappt«, fügt sie hinzu.
    Ich verzichte auf einen Kommentar und verfolge fassungslos, wie der Kandidat den Publikumsjoker zieht.
    »Ein Riesenrind«, sagt Herr Müller, als er sich neben Katja setzt. »Warum ist das eigentlich schon wieder ’ne Frage mit Hitler?«
    »Was schaut ihr denn da?«, fragt Katja.
    Herrn Müllers Kinn klappt nach unten. Ich bekomme für einen Moment keine Luft.
    »Du kennst nicht Wer wird Millionär ?«
    Katja schüttelt den Kopf.
    Wo hat er die denn her? Was für ein naives Dummchen hat er uns da ins Haus geholt? Wie kann es sein, dass irgendjemand Wer wird Millionär nicht kennt? Gut, sie ist recht jung, trotzdem kann sie doch nicht so komplett weltfremd sein.
    »Aber die Bibel kennst du?«, frage ich.
    Sie nickt ernsthaft.
    »Lass uns erst mal fertig sehen, wir reden später drüber«, sagt Herr Müller.
    Katjas Nachsatz »Ich glaube, meine Eltern schauen das« lassen wir vorläufig so stehen.
    Das Publikum konnte helfen. Günther Jauch lässt die richtige Antwort einloggen, sagt aber noch nicht, dass sie richtig ist, sondern moderiert die Werbung und das SMS -Gewinnspiel an. Das heißt, die Sendung ist de facto vorbei. Nach der zweiten Werbung gibt es keine Fragen mehr, dafür ist keine Zeit. Günther Jauch wird sagen »Schauen wir uns mal die 125 000-Euro-Frage an« und dann sehr überrascht dreinblicken, wenn die Hupe kommt, die das Sendungsende verkündet. Das ist genauso zuverlässig wie sämtliche Kamerafahrten, die nach internationalem Standard vorgeschrieben und in allen Wer wird Millionär -Ausgaben weltweit gleich sind. Vielleicht kann ich Katja mit meinem konzentrierten Fachwissen über die Sendung beeindrucken? Nein, ich werde Herrn Müller dieses Feld überlassen. Tatsächlich scheint er genau diese Idee zu verfolgen und steigt auf unterster Ebene ein: »Katja,
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