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Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers

Titel: Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers
Autoren: Christian Ritter
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Hände, um uns zu einer Aktion zu zwingen. Herr Müller folgt der Anweisung und verteilt das Essen auf den Tellern. Erstmals stellt sich mir die Frage, wo sie eigentlich die Zutaten herhatte, da sie ja seit zwei Tagen hier ist, und ob sie die Kühlkette nicht eventuell für zu lange Zeit unterbrochen hat. Man bringt den Verkäufer aus dem Supermarkt, aber den Supermarkt nicht aus dem Verkäufer. Ich beschließe, ruhig zu bleiben und ihr blind zu vertrauen. Herr Müller macht das ja immerhin auch. Erst recht, falls sie wirklich die Soft-SM-Frau sein sollte. Das könnte ich vielleicht jetzt im Tischgespräch rausfinden.
    »Am besten schmeckt es übrigens mit reichlich Curry-Ketchup drin, ich habe das einfach schon mit reingemischt«, sagt Katja.
    »Na, dann guten Appetit«, sagt Herr Müller und schiebt sich den ersten großen Löffel in den Mund. Ich zweifle noch etwas und betrachte den undefinierbaren Essensflatsch vor mir wie einen Fremdkörper, ein organisches Wesen, das mir gefährlich werden könnte. Wenn nicht von außen, dann von innen. Ich bemerke Katjas auffordernden Blick. Mit leicht geneigtem Kopf lächelt sie mir zu, ihre Zahnhygiene scheint vorbildlich zu sein, und sieht abwechselnd auf meinen Teller und mir in die Augen. Ihr Blick sagt: »Iss! Iss es! Los! Iss, als gäbe es kein Morgen mehr!«
    Ein bisschen fühle ich mich wie ein Kalb, das von seinem Schlächter mit gutem Zureden und Streicheleinheiten auf das Laufband bugsiert wird, auf dem weiter hinten schon die rotierende Säge wartet, die ihm den Kopf abschneiden wird. Als denkendes, abwägendes Kalb wäre ich in dieser Situation skeptisch, würde dann aber entscheiden, dass es nicht so schlimm sein kann, weil meine Familie schließlich schon vor mir auf das Laufband gegangen ist – und weil der Mann mit den roten Klecksen auf der Schürze so freundlich wirkt. Herr Müller hat sich schon den dritten Löffel eingeschoben und gibt sich Mühe, seine Begeisterungslaute zu variieren: »Mmh«, »Ohm«, »Aah«.
    Ich nehme zögerlich den ersten Löffel. Es schmeckt … gut. Nicht hervorragend, außergewöhnlich, fantastisch; einfach gut. Gut und unverdächtig. Ich signalisiere Katja mit einem Blick, dass ihr Essen essbar ist, sie scheint zufrieden und langt nun auch selbst ordentlich zu. Wir mampfen stumm vor uns hin.
    »Woher kennt ihr euch eigentlich?«, wiederholt Katja meine Frage, als Herr Müller gerade seinen ersten Nachschlag schöpft.
    »Lange Geschichte«, sagt Herr Müller.
    Ich fasse mal eben zusammen: Als Herrn Müllers Großeltern noch hier auf dem Hof gelebt haben, wurden sie einmal die Woche mit Lebensmitteln aus meinem Laden beliefert. Ein spezieller Service für treue und immobile, sprich gebrechliche Kunden. Ich hatte gerade dort angefangen, meinen Führerschein frisch gemacht und fand es daher sehr spannend, so oft die lange, freie Strecke entlangheizen zu dürfen. Bis zu hundertvierzig bin ich damals gelegentlich gefahren! Die Chancen, auf der Strecke geblitzt zu werden, lagen schon immer eher im Minusbereich. Zu diesem Spaß dazu gab es immer ordentliches Trinkgeld und manchmal ein Stück selbst gebackenen Kuchen. Im Sommer 1998, im Juni, bin ich wie üblich rausgefahren, aber die Großeltern Müller waren nicht mehr da. Dafür Herr Müller. Seine Eltern hatten sie ins Heim und ihn sozusagen ins Exil geschickt, weil er damals recht wild unterwegs war. Entweder wäre er innerhalb absehbarer Zeit im Knast gelandet oder eben auf dem Bauernhof, als Möglichkeit zur inneren Einkehr. So erzählt er es zumindest immer. Ich halte das mittlerweile für Imagebildung, denn er ist ein grundguter Mensch. Natürlich war ich überrascht, dass die Sache mit den Umquartierungen so schnell ging, ohne dass mir Herrn Müllers Oma und Opa davon erzählen konnten, und auch darüber, dass Herr Müller das mit sich hat anstellen lassen, immerhin ist er in Berlin aufgewachsen. Er wurde quasi von hundert auf null gedrosselt. Ich hatte ihm angeboten, den Lieferservice einzustellen, da er sich ja selbst versorgen kann, aber er fand das »ganz dufte«. Es ging also weiter. Drei Wochen später haben wir uns das erste Mal zusammen auf dem Bauernhof betrunken, sechs Wochen später bin ich eingezogen. Das Gerücht im Dorf, wir seien schwul, wurde sehr schnell von dem Gerücht abgelöst, Herr Müller habe es mit Frau Scheßlitz getrieben, während ihr Mann bei der Probe seiner A-cappella-Gruppe war. Das Gerücht hielt sich sehr hartnäckig, hauptsächlich, weil es
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