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Die Sanddornkönigin

Die Sanddornkönigin

Titel: Die Sanddornkönigin
Autoren: Sandra Lüpkes
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dem Weg nach oben befand, desto weiter schien sie ihn herunterziehen zu können. Sie war eine Gefahr für ihn. Er hatte Angst, ihr zu begegnen. Er schloss die Küchentür hinter sich und ging ein paar Schritte weiter rechts bis zum Ende des Ganges, weil er sie so liebte.
    Die Tür zu dem kleinen Raum war angelehnt, wie meistens. Seine Mutter litt ein wenig unter Platzangst, was allerdings angesichts der bescheidenen Ausmaße ihres Arbeitszimmers nur verständlich war. Er lauschte. Keine Nähmaschine brummte, keine Dampfpresse zischte, es war ruhig. Fokke spähte hinein, ob seine Mutter überhaupt da war.
    Sie telefonierte. Vornübergeneigt hatte sie den Hörer fest an ihr Ohr gepresst, die Hände wirkten verkrampft. Er konnte sie zwar nur von hinten sehen, aber er erkannte schon an ihrer Haltung, dass sie heute keinen guten Tag hatte. Mal wieder.
    »Bitte, Doktor Gronewoldt, Sie müssen es irgendwie möglich machen, auf die Insel zu kommen«, hörte er sie flehen, der panische Unterton, der sich bereits in ihre Stimme eingeschlichen hatte, versetzte ihn in höchste Alarmbereitschaft. »Es geht einfach nicht mehr, hören Sie?… Ich habe es nicht mehr unter Kontrolle. Ich habe mich nicht mehr unter Kontrolle. Es ist etwas Schreckliches passiert, o mein Gott, wenn Sie wussten, wie schrecklich… Von mir aus mit dem Flieger, selbstverständlich, mein Mann zahlt das. Hauptsache, Sie lassen mich hier nicht einfach vor die Hunde gehen… Ja, morgen, okay, danke, vielen, vielen Dank, Doktor Gronewoldt. Sie müssen mir einfach helfen, ich kann nicht mehr.«
    Kaum hatte sie den Telefonhörer aufgelegt, da sah Fokke, wie ihre Schultern zuckten, und er wusste, dass sie wieder einmal weinte. Es versetzte ihm einen Stich, diese Art, wie sie ihren Therapeuten angefleht hatte, tat weh. Dr. Gronewoldt war der einzige Mensch, mit dem sie überhaupt noch sprach. Er hatte sich wahrscheinlich schon eine goldene Nase an seiner Mutter verdient.
    Man hatte ihm im Hotel bereits ein eigenes Zimmer eingerichtet, da er oft über Nacht bleiben musste, wenn sie wieder eine besonders schlimme Phase hatte. Depressionen, Phobien, Neurosen, was es auch war. Fokke war froh, dass es diesen Seelendoktor gab, auch wenn er eigentlich nicht besonders viel auf diese Zunft gab. Sein Stiefvater zahlte einen Haufen Geld für Flüge, Schiffsfahrten, Honorare und Unterkunft. Mit Sicherheit fiel es dem alten Geizkragen nicht leicht, dies zu tun, doch alles war besser, als sich von Hilke Felten-Cromminga in das tiefe Loch ziehen zu lassen, in dem sie saß. Und obwohl Fokke den Mann seiner Mutter nicht mochte, er konnte ihn gut verstehen. Auch er würde sicher einen großen Teil seines jämmerlichen Kochgehaltes darin investieren, dass sie ihn in Ruhe ließ. Dass solche Sätze wie »Ich hab doch mein Möglichstes getan, um dir unter die Arme zu greifen, und du hast alles vermasselt« weiterhin ungesagt blieben.
    Er beobachtete sie noch eine Weile, wie sie heulend am Nähtisch saß. Mit einem Mal sprang sie auf und fuhr herum, ihre Augen waren nicht leer. Nicht so, wie er es in den letzten Jahren von ihr kannte. Ihre Augen waren funkelnd, lebendig, schimmernd von Tränen zwar, aber voller Energie. Sie ergriff einen wuchtigen Stoffballen und schleuderte ihn über den Tisch; das zarte Schnittpapier zerriss unter dem schweren Wurfgeschoss, eine Schale mit silbernen Nadeln fiel vom Tisch, und die spitzen Metallstifte verteilten sich über den ganzen Boden. Fokke hatte sich rechtzeitig hinter den Türrahmen zurückziehen können, sie hatte ihn nicht gesehen. Aber er hatte sie gesehen, diese Kraft, diese verzweifelte Wut, die er seiner Mutter nie zugetraut hätte.
    »Ihr Schweine«, brüllte sie, es schien irgendwie aus ihr herauszubrechen. Im selben Moment sank sie wieder in sich zusammen, wurde klein, grau und still, wie die Hilke, zu der sie in den letzten Jahren geworden war. Fokke wurde kalt, als er sie sah, und es wurde ihm bewusst, wie wenig er sie kannte. Er drehte sich um und ging zurück. Er wollte sich von ihr nicht den freien Nachmittag versauen lassen.
    Im Lastenaufzug, der ihn zum Personaltrakt unterm Dach bringen sollte, lehnte er sich gegen die graue Wand und holte tief Luft. »Lasst mich doch alle in Ruhe«, zischte er.
    Im Erdgeschoss öffnete sich die Schiebetür und Mareike, das Mädchen von der Rezeption, schob sich hinein, sank sofort mit dem Rücken an der Wand in die Knie und verbarg ihren Kopf in den Armen.
    »Ronja ist tot«, heulte sie. Fokke
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