Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich
Autoren: Marc Fischer
Vom Netzwerk:
gucke? Und was für ein Mensch bin ich eigentlich, ein sicherer, ein unsicherer, irgendwas dazwischen?
    Ein Klub ist dann gut, wenn er es schafft, solche Fragen in den Schlangestehenden hervorzurufen, existenzielle Fragen, Grundsätzliches. Marquardt kriegt es hin, dass man sich solche Fragen stellt. Und wie der Ruf des Berghain selbst ist auch der von Marquardt inzwischen zu mythischer Größe gewachsen.
    »Ein Freund von mir meinte neulich, er sei gar kein Mensch, sondern ein Reptil«, sagt Ricardo. »Eine Echse oder so was.«
    »Wer meinte das – der Volltrottel Jaime, der noch kein einziges Mal drin war?«, fragt Maria.
    »Nein, Antonio sagte das«, sagt Ricardo, als Marquardt und seine zwei Vasallen, Typ SS – Kickboxer, gerade vier Italiener nach Hause schicken.
    »Was war jetzt falsch an denen?«, fragt Jose.
    »Der eine hatte ziemlich schlimme Turnschuhe an; so Angeber-Dolce-&-Gabbanas in Rotweißgrün. Außerdem waren sie ziemlich laut«, sagt Ricardo. Er selber trägt Nikes, aber Ricardo beginnt langsam zu verstehen, dass so was hier gar nichts bedeutet. Dass solche Codes von vorgestern sind, die vielleicht in Barcelona, Mailand und New York noch gelten, aber nicht hier. Hier meinen sie’s irgendwie ernster. Kein Ausgehen auf der Welt hat so etwas Sakrales wie das Berghain’sche. Die Geschichten, die man sich davon erzählt, handeln nicht von Topmodels, die mal nicht reingekommen sind, oder von Fernsehstarlets, die mit Drogen auf der Toilette erwischt wurden. Sie handeln von Menschen, die sich oft tagelang inden Katakomben des Klubs herumgetrieben haben, in allen möglichen Aggregatzuständen. Sie handeln von Zombies, Wirren, Irren. Einige gingen heterosexuell rein und kamen schwul wieder heraus, bei anderen war es umgekehrt. Es sind Fegefeuergeschichten, die das Berghain erzählt. Und weil die Hitze des Fegefeuers so stark ist, kommen so viele Menschen von überall aus der Welt her – weil sie spüren, dass keine weltliche Institution aufpasst und man hier verloren gehen kann. Falsch: verloren gehen will. Darum machen sich die vielen Europäer und Europäerinnen auf den Berghainweg: um sich in Schwärze aufzulösen. Um zusammen mit anderen kleinen Seelen von der Unterwelt verschluckt zu werden und zu sehen, was danach von ihnen übrig bleibt.
    4.12 Uhr. Ricardo, Maria, Jose und Angelina, kleine, dunkelhaarige Spanier allesamt, junge Studenten des Lebens allesamt, unsicher allesamt, stehen vor einem kräftigen Echsenmann mit Tätowierung und Ringen im Gesicht.
    Maria denkt: zum Glück keine Snowboardjacke.
    Ricardo denkt: bitte, Echse, por favor.
    Jose denkt: ja, ich will.
    Angelina denkt: Vater unser im Himmel.
    Der Echsenmann schaut sie schweigend an. Dann nickt er, wie nur der Echsenmann es kann.

[Menü]
Alle meine Freunde sind Hunde
    Ich habe nicht das Geringste dafür getan, aber trotzdem hat sich mein Bekanntenkreis in den letzten Monaten verdoppelt. Traf ich mich früher mit Til, Samuel, Lothar oder dem Signore, treffe ich mich heute nicht mehr mit Til, Samuel, Lothar oder dem Signore. Ich treffe mich nun mit Til und Cäsar, Samuel und Paule, Lothar und Johannes, Signore und Bernardo.
    Nein, sie sind nicht alle schwul geworden. Das ginge ja noch.
    Cäsar ist Tils English Pointer.
    Paule ist Samuels Boxer.
    Johannes ist Lothars Neufundländer.
    Bernardo ist des Signores Bernhardiner.
    Es geschah irgendwann Mitte des letzten Jahres, und wer genau hinsah, hätte die Anzeichen bemerken müssen: Männer, die immer stur geradeaus geguckt hatten, wenn sie über die Straße gingen, taten das nicht mehr. Stattdessen hielten sie an jeder roten Ampel, sahen zu Boden und murmelten irgendwas davon, dass man jetzt »sitzen« und »ganz ruhig sein« müsse. Frauen, die sich bislang nur über Handtaschen Gedanken gemacht hatten, redeten über Vitaminzusätze und Proteine, die der Fellglänze zuträglich seien. Wenn du versuchtest, irgendjemanden am Telefon zu erreichen, erreichtest du ihn – wenn überhaupt – nicht mehr zu Hause, sondern draußen, in irgendeinem Park.
    »Ich bin gerade mit Paule draußen.«

    »Johannes will noch etwas laufen.«
    Das gesamte Straßenbild änderte sich. Die Welt änderte sich. Menschen wurden zu Hunden. Meine Freunde wurden zu Hunden.
    So richtig bemerkte ich es erst, als ich neulich mal beim Signore zu Besuch war. Ich hatte ihn länger nicht mehr gesehen. Nicht, seitdem Anna ihn verlassen hatte.
    Als er mir die Tür öffnete, war er nicht allein. Bernardo war bei
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher