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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich
Autoren: Marc Fischer
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Brandenburger Tor, Galeries Lafayette, das Stelenfeld zum Judenmord, aber eigentlich geht’s nur um dieses Gebäude am Wriezener Bahnhof: »El Berghain«, wie sie sagen, das »Berghain«.
    Streng genommen könnte man es einen Klub nennen, also dieArt Veranstaltung, bei der ein paar DJ s ein paar Platten auflegen und ein paar Hundert Menschen glücklich machen – doch wer die Feiern im Berghain so beschreibt, für den ist die Sixtinische Kapelle auch bloß irgendeine Kirche und die Freiheitsstatue nur eine Grünspan-Lady, die mit einer Fackel im Wasser rumsteht und auf einen Haufen Penner wartet. Richtiger wird’s, wenn man’s so sagt: Ägypten hat die Pyramiden, Rom hat den Vatikan, Granada hat die Alhambra, Berlin hat das Berghain. Der Ort ist zu einem Mythos geworden, man spricht von ihm wie von einem Hieronymus-Bosch-Bild: als Paradies des Exzesses, Fotografieren verboten. Jedes Wochenende fliegen Spanier, Franzosen, Italiener, Portugiesen, Holländer zu Tausenden ein und warten mit leuchtenden Augen auf Einlass, stundenlang. Sie erhoffen das Unfassbare hier, lebensverändernde Erfahrungen, die sie kulturell/spirituell/sexuell weiterbringen.
    Falls sie reinkommen.
    3.02 Uhr. Die vier gewinnen ein paar Meter. Hinten wächst die Schlange bis zum Taxistand, sie wird immer bunter, überraschend viele tragen Rucksäcke und sehen aus wie Interrailer, sind die denn irre? Mindestens die Hälfte von ihnen wird es nicht reinschaffen. Man wird sie auf die Straße zurückstoßen wie unerwünschte Fremde. Alle anderen werden es drinnen umso mehr genießen.
    »Stimmt es, dass sie dort den letzten wahren Techno spielen?«, Maria sieht hin zur Burg, über Hunderte von Köpfen hinweg, die vor ihr anstehen und plappern und zwitschern, leise auf Deutsch, laut auf italiano, español, portugués, holandés. Weiß Wowereit, welche Bedeutung der Klub für die Stadt hat? Hoffentlich nicht. Rotes und blaues Licht blitzt aus den Fenstern der weiter oben liegenden Panoramabar, ab und zu wummert es und bummert es und karummert es.
    »Ist es wahr, dass Berlin da drin noch das alte Berlin ist, das Rave-Berlin der zerfallenen Häuser, der Party-Revolución, des ewigen Tanzes?«

    »So erzählt man sich’s«, sagt Ricardo, der es selber erzählt bekommen hat, von einem, der es von einem erzählt bekommen hat, der wirklich da gewesen sein soll und seitdem ein anderer geworden sei, besser, sagen alle. Den Rest hat Ricardo im Internet zusammengegoogelt.
    »Stimmt es, dass die Leute auf den Toiletten Sex haben?«, fragt Maria.
    »Vor allem auf den Gängen, habe ich gehört.«
    »Ist es wahr, dass es einen Bereich gibt, den man nur nackt und mit einer Baulampe auf dem Kopf betreten darf?«
    »Der soll vor allem für die Schwulen sein und Lab. Oratory heißen.«
    »Stimmt es, dass es drinnen überall Drogen gibt?«
    »Wie sonst sollte man es aushalten?«
    »Fast habe ich etwas Angst«, sagt Maria und greift Angelinas Hand. Angelina, kleinste der vier, lächelt unsicher, sie hat die ganze Zeit kaum etwas gesagt. Sie ist hier, weil Jose herwollte, den sie liebt, und ob Jose sie gerade wirklich gern dabeihat, ist schwer zu sagen. Sie könnte sich später als hinderlich erweisen, falls sich in den Gängen oder Toiletten etwas ergibt.
    »Das mit der Angst ist doch gut«, sagt Jose. »Wo sonst auf der Welt gibt es das noch – einen Klub, vor dem man Angst hat? Ein Klub, bei dem es um etwas geht? Ein Klub, der ein kleiner Test ist?« In Spanien gehen sie den Jakobsweg, er führt ins Licht, hier gehen sie den Berghainweg, er führt ins Dunkle. Und über Sven Marquardt, den Türsteher. El Gorila, sagt Ricardo.
    3.35 Uhr.
    Marquardt hat ein Gesichtstattoo und viele Ringe im Gesicht, auch in den Lippen, aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass es nicht ganz einfach ist, herauszufinden, wer ihm gefällt und wer nicht. In anderen Klubs gibt es meist ein klar erkennbares System: Turnschuhe gehen oder Turnschuhe gehen nicht; Krawatte ist der Tod oder toll; nett abnicken läuft oder läuft nicht. AuchMarquardt hat ein System, aber mit ihm ist es ein bisschen wie mit dem Türhüter in Kafkas Geschichte »Vor dem Gesetz«: Irgendeinen Schlüssel gibt es, aber welchen und wer hat ihn gerade? Ist mein rasierter Schädel okay, oder hast du, Gott der Nacht, vielleicht gerade überhaupt keinen Bock darauf? Gucke ich zu betont lässig oder nicht lässig genug? Wie gucke ich überhaupt, und was hat das zu bedeuten, dass ich jetzt darüber nachdenke, wie ich
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