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Die Saat der Bestie (German Edition)

Die Saat der Bestie (German Edition)

Titel: Die Saat der Bestie (German Edition)
Autoren: Michael Dissieux
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Augen, hakenförmige Schnäbel und ausgebreitete Schwingen materialisierten sich für einen kurzen Moment unter dem harten weißen Lichtstrahl seiner Lampe. Der Weg über den Querbalken war ihm vertraut, die immer wiederkehrenden Bewegungen des ewigen Balletts stroboskopischen Lichtes. Der gewundene Pfad führte Alfred durch unendlich lange Korridore, Hallen und Galerien, die er allzu gut kannte, schließlich machte er die Runde bereits seit sechsunddreißig Jahren. Auf diese Route hatte ihn einst Suttleworth mitgenommen, als er ein Junge von gerade einmal sechzehn Jahren und der alte Suttleworth nur noch zwei Monate von seinem Ruhestand entfernt gewesen war. Eine Route, wie sie der Alte selbst fünfundvierzig Jahre lang gegangen war. Nie war es nötig gewesen, den Weg zu ändern. Nachtwächter des Naturhistorischen Museums in South Kensington zu sein, war nun einmal kein anspruchsvoller Beruf.
    Alfred trug seinen Schlagstock und die Taschenlampe jede Nacht, doch Gebrauch machen musste er von Ersterem noch nie in all den Jahren und Zweitere benötigte er wohl auch nicht wirklich. Selbst in mondlosen Nächten und während eines Stromausfalles hätte er seinen Weg durch die Galerien mit geschlossenen Augen gefunden, das zumindest erzählte er Mrs. Wentwhistle gerne mit einem Kichern. Die Taschenlampe trug er einfach aus Macht der Gewohnheit. Es hatte auch noch nie ein Einbruch stattgefunden, seit es das Museum gab. Und abgesehen von den gelegentlichen Umbauten der sonderbaren Schränkchen hie und da, oder dem Stellplatzwechsel eines Artefaktes ab und an … die altbekannte Gestaltung des Museums hatte sich kaum bedeutsam verändert, seit der Ankunft des Diplodocuscarnegii im Jahre 1905, vor zweiundneunzig Jahren also.
    Alfred Wentwhistle hatte Vergnügen an seinem Job. Ihn entzückte es, zahlreiche Stunden zwischen Exponaten wie den ausgestopften Bestien und Dinosaurierknochen zu verbringen. Natürlich konnte man sich diese heutzutage auch real ansehen, seit der Eröffnung des eingezäunten Kampfgeheges des Londoner Zoos, aber es lag doch etwas Zeitloses und Magisches auf all den fossilen Gestalten, ausgegraben von Hobbyarchäologen, gewissermaßen die ersten Paläontologen; als Beweisstücke für die Existenz von Meeresungeheuern, Drachen oder gar dem Zyklopen.
    Von Zeit zu Zeit, ungestört von all dem regulären Publikum, hatte Alfred seine Freude daran, die handgeschriebenen Etiketten zu studieren, auf denen Erklärungen zu jedem Objekt angegeben waren; wo es entdeckt und ausgegraben worden war, wer es zu einem Ganzen wiederherstellte und einige andere sachdienliche Informationen, die der Beschaffer des Exponats mitzuteilen für nötig befunden hatte. Nach sechsunddreißig Jahren gab es nicht viele Etiketten, die Alfred noch nicht gelesen hatte.
    Das Wissen um seine Rolle als Hüter des bedeutsamsten Museums für Volksgeschichte des Landes – und infolgedessen des ganzen Königreiches und demnach, faktisch, der gesamten Welt! – bereitete ihm große Befriedigung. Und auch wenn er sich seit seinem Amtsantritt noch keiner Herausforderung in seinem friedvollen Wächteramt im Dienste der unzähligen Schätze von Mutter Natur hatte stellen müssen, Alfred Wentwhistle war zur Stelle, jede Nacht des Jahres – sogar am Weihnachtsabend – nur für den Fall, dass das Museum ihn jemals brauchen würde.
    Hin und wieder stieß er auf einen der Museumsforscher, die noch bis spät in die Nacht arbeiteten. Sie tauschten dann einige Nettigkeiten aus und manchmal wurde ihm sogar ein warmes Getränk angeboten. Sie alle kannten den alten, zuverlässigen Alfred, und auch er kannte sie alle beim Namen. Über die Jahre hatte Alfred Professoren kommen und gehen sehen – Botaniker, Zoologen, Naturforscher und Kryptozoologen – doch manche Dinge blieben stets dieselben, wie das Waterhouse-Gebäude selbst und sein nächtlicher Hüter.
    Alfred wusste, wo sein Platz war. Die Wissenschaftler waren hochgradig intelligente und gelehrte Berühmtheiten der Museumseinrichtung, und er nicht mehr als ein einfacher Wachmann. Ihm reichte es vollkommen aus, sich stundenlang zwischen den Ausstellungsstücken in den Vitrinen aufhalten zu dürfen. Es wurde das „Haus der Naturkunstwerke“ genannt; Sir Richard Owen´s nachhaltiges Vermächtnis an die Welt.
    Alfreds langsame, unaufhaltsame Schritte trugen ihn zurück in die Haupthalle und zum Museumseingang. Er verweilte kurz neben dem gereckten, skelettierten Hals eines Diplodokus, um im Schein der
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