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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin
Autoren: Anne Perry
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geistig zurechnungsfähig ist, wird einer der großen Damen Europas so etwas doch nie unterstellen!«
    »Die Welt besteht aber nicht nur aus ehrenhaften und geistig zurechnungsfähigen Menschen«, wandte Lord Whickham ein.
    »Nein, Rathbone hat recht. Es ist besser für unseren Ruf – und den ihren –, wenn sich versierte Leute dieses Falles annehmen. Es soll doch nicht heißen, wir hätten ihn nur so nebenbei erledigt; sonst greift am Ende irgendwer den Streit wieder auf, wenn die Beweise längst kalt sind.«
    »Arme Frau«, wiederholte Lady Whickham betrübt. »Sie muß an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt sein. Hoffentlich hat sie wenigstens Freunde, die ihr in dieser Not helfen. Ich fürchte, Trost ist inmitten einer solchen Situation nicht möglich.«
    »Ich glaube nicht, daß sie wieder heiraten wird«, sinnierte Mr. Lacey.
    »Himmel! Natürlich nicht!« Colonel Keogh war entsetzt.
    »Der arme Friedrich war die Liebe ihres Lebens. Unvorstellbar, daß sie es je erwägen würde! Es wäre wie… wie… ich weiß nicht…, wie wenn Julia Romeos Grab verließe und sich mit… irgendeinem anderen vermählte.« Er schnitt sich ein Stück vom Stiltonkäse herunter und schob es sich genüßlich in den Mund.
    »Eine solche Frau liebt nur einmal im Leben, mit ganzem Herzen und für immer!« fügte er voller Inbrunst hinzu.
    Mrs. Lacey sagte nichts.
    Rathbones Gedanken trieben schon wieder in eine andere Richtung. Nur noch am Rande registrierte er die sorgfältig gekämmten und mit Diademen verzierten Köpfe der Frauen, ihre weißen Schultern, die durchgestreckten Rücken, die schlanken Taillen, die Halstücher und Chemisetten bei den Männern. Ihre Konversation, das Klirren der Gläser und des Bestecks ging ganz an ihm vorbei. Was würde wohl Zorah Rostova von dieser so höflichen wie einfältigen Gesellschaft halten? Arglistig war keiner von ihnen. Und sollten sie einmal einen bösen Gedanken hegen, so war ihr Horizont zu begrenzt, als daß er sich entfalten könnte. Sie fürchteten, was sie nicht kannten, und sie hatten Vorurteile, weil das so viel leichter war, als sich mit Neuem zu beschäftigen, das am bisher Geglaubten rütteln konnte. Aber sie hatten auch ihre Träume, waren verletzlich und hatten Anwandlungen von Mitgefühl.
    Gleichwohl waren sie im Vergleich mit Zorah unglaublich flach. Er sehnte sich danach, diese Runde zu verlassen und irgendwo eine unkonventionelle, geistreiche Person zu finden, die dem Verstand – und auch den Gefühlen – neues, prickelndes Leben einhauchte. Und wenn das mit Gefahren verbunden war, so machten vielleicht gerade sie das Vergnügen aus.
    Zorah hatte ihre Karte hinterlassen. So suchte Rathbone sie am Nachmittag des folgenden Tages in ihrer Londoner Residenz auf. Zuvor hatte er ihr allerdings seine Absicht schriftlich mitgeteilt.
    Sie empfing ihn mit einer Freude, die die meisten Damen der Gesellschaft als unziemlich empfunden hätten. Rathbone dagegen wußte durch langjährige Erfahrung, daß Menschen, denen ein Zivil oder Strafprozeß droht, ihre Angst, häufig ganz entgegen ihrem üblichen Wesen zu erkennen gaben. Wenn man genauer hinsah, entdeckte man bei jedem Facetten, die sich in Zeiten ohne Not vielleicht noch gut bemänteln ließen, doch die Angst legte alle Hüllen bloß und durchbrach die gekünstelten Manieren, die nur dem Selbstschutz dienten.
    »Sir Oliver! Schön, daß Sie gekommen sind!« rief Zorah spontan. »Ich habe mir die Freiheit genommen, auch Baron Stephan von Emden einzuladen. Damit spare ich mir die Mühe, später nach ihm zu senden. Sie haben auch sicher keine Zeit zu verlieren. Wenn Sie mich unter vier Augen zu sprechen wünschen, dann können wir uns in ein anderes Zimmer zurückziehen.« Damit wandte sie sich um und führte ihn durch das eher belanglose Vestibül in einen Salon, bei dessen Anblick es Rathbone den Atem verschlug. An der Wand gegenüber der Tür hing ein gigantisches Seidentuch mit raffiniert hineingemalten Mustern in den Farben Rotbraun, Tiefrot, Schokoladenbraun und Pechschwarz sowie zu äußerst komplizierten Knoten verflochtenen Fransen an der Borte. Auf einem Ebenholztisch stand ein silberner Samowar, und der Boden war bedeckt mit Bärenfellen, alle in freundlichem Braun. Dazu gab es eine rote Ledercouch, die unter einer Vielzahl von ganz verschiedenen bestickten Kissen schier ertrank.
    Vor einem der zwei hohen Fenster stand ein junger Mann mit braunem Haar und einem freundlichen Gesicht, das im Moment allerdings
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