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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten
Autoren: Nina Blazon
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aufgehört«, sagte sie. »Beste Gelegenheit, rüberzugehen.«
    Levin steckte das Medaillon mit einer nachlässigen Geste ein, gähnte und zückte seinen Geldbeutel. Natürlich war er in Gedanken bei den Kämpfen und Intrigen und Gelagen, die morgen ohne ihn stattfinden würden.
    Direkt vor dem Museum wurde Lis nervös. Tausend Dinge fielen ihr ein, die ihr verlockender erschienen als jetzt diesen Hort der Vergangenheit zu betreten. Wie erwartet wallte ihre Abneigung gegen alte Gegenstände, alte Kleidung und alte Möbelstücke wieder auf. Zu schnell bildete sie sich ein, Schatten und Schemen zu sehen und den Hauch der Jahrhunderte zu spüren. Zu viel Fantasie – so fasste ihr Vater die Summe dieser seltsamen Wahrnehmungen, Ahnungen und Ängste zusammen.
    Vor ihr ragte die zweiflügelige Tür auf. Lis atmete tief durch, senkte den Kopf und trat ein.
    Sie standen in einem Vorraum, aus dem eine Marmortreppe in den ersten Stock führte. Zwei lange, schlanke Meerjungfrauen aus rotbraunem Holz hingen mit schwungvoll verschlungenen Fischschwänzen an dem großen Türbogen vor der Treppe und hielten ein Wappen fest. Levin stieß Lis an und deutete nach links. Eine kleine, lichtdurchflutete Kammer war dort, die durch ein großes Schild als Kassenraum ausgewiesen war. Postkarten glänzten in der schrägen Gewittersonne, und der Tisch, auf dem Bücher und Prospekte lagen, war aus weißem Stein. Seine wuchtige Vorderseite war einer alten römischen Inschriftenplatte nachgebildet. Römische Zeichen, die in den Stein gemeißelt waren, ließen den Tisch wie einen Altar aussehen. Lis gruselte es unwillkürlich. Die Härchen an ihren Unterarmen stellten sich auf. Ich wusste es, schoss es ihr durch den Kopf. Es geht schon los!
    Der Museumswärter, der wie ein Priester hinter dem Kassentisch saß, mochte fünfzig oder hundertfünfzig Jahre alt sein. Er war hager, hatte steingraues Haar und buschige Brauen. Zwei tiefe Furchen gruben sich neben seinen Mundwinkeln in die Wangen. Er lächelte nicht, als Lis das Eintrittsgeld bezahlte. Sein düsterer, unfreundlicher Blick schüchterte sie ein. Unwillkürlich schob sie Levin vor, der zwar nicht so gut Slowenisch sprach wie sie, aber mit Leuten wie diesem grimmigen Museumsmenschen deutlich besser umgehen konnte. Levin konnte sich mit seiner gewinnenden Art überall Respekt verschaffen.
    »Soll ich ihn jetzt fragen, oder was?«, zischte ihr Bruder ihr zu.
    »Ich habe die Inschrift abgemalt, da kannst du ja ruhig auch mal was machen«, gab Lis ebenso scharf zurück.
    Genervt riss er ihr den Zettel aus der Hand und wandte sich dem Museumswärter zu. »Hallo!«, sagte er und lächelte.
    Der Mann runzelte die Stirn und nickte einen kühlen Gruß. »Wollt ihr was Bestimmtes?«
    »Äh, ja«, begann Levin. »Hier habe ich eine alte Schrift, die wir nicht lesen können. Meine Schwester hat sie auf einem Schriftstück unserer Oma gefunden. Wir dachten, vielleicht kann man wenigstens erfahren…«
    »Gib her.«
    Der Museumswächter streckte die Hand aus, nahm das Blatt Papier und warf einen flüchtigen Blick darauf. Dann brummelte er etwas Unverständliches und tauchte unter seinen Tisch. Lis hörte ein Geräusch, als würde er eine Schublade aufziehen, und hielt die Luft an. Plötzlich kam der graue Haarkranz wieder zum Vorschein und der Mann wuchtete einen Stapel Bücher auf den Tisch. Prospekte hoben im Luftzug ab wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm und flatterten zu Boden.
    »Geht und seht euch das Museum an, deswegen seid ihr doch hier, oder?«, meinte er.
    Levin und Lis blickten sich verwundert an. »Ja«, sagte Lis. »Klar. Und Sie schauen in der Zwischenzeit, was die Inschrift bedeuten könnte?«
    Die Brauen des Mannes verzogen sich wieder zu einer Gewittermiene. »Was denn sonst? Du siehst doch, dass ich die Bücher schon rausgeholt habe. Also los! Verschwindet.«
    Verwirrt verließen sie den Kassenraum und blieben unschlüssig zunächst in der dämmrigen archäologischen Abteilung stehen. Die blaue Beleuchtung ließ Levins Gesicht unwirklich und hohlwangig aussehen. Für einen Moment bildete Lis sich ein, in der Zeit zu schweben.
    »Was ist denn mit dem los?«, flüsterte Levin. »Und so einem hättest du das Medaillon gegeben?«
    »Habe ich doch gar nicht. Immerhin versucht er die Inschrift zu entziffern. Das ist ja schon mal was, oder?«
    »Na, hoffentlich bringt es was«, meinte Levin und sah sich im Raum um. Außer ihnen schien sich an diesem Regentag niemand in das Museum verirrt zu
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