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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten
Autoren: Nina Blazon
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haben, einsam hallten ihre Schritte auf dem Boden. Langsam ließen sie sich von Raum zu Raum treiben, schauten sich Holzmodelle von Schiffen an und blieben lange vor einem Seepferd aus Holz stehen, das sich in den schrägen Spiegeln in den Raum hinein vervielfachte. Statt Hufen schlugen knorpelige Flossen in die Luft. Levin lachte und betrachtete das groteske Seetier, während Lis hartnäckig an Nichtigkeiten dachte, um die wispernden Stimmen ihrer Fantasie zum Schweigen zu bringen. Dennoch konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie aus allen Ecken und Winkeln und aus jedem gemalten Augenpaar angestarrt wurde. Eine Hand schien am Saum ihres Regenanoraks zu zupfen und Lis machte unwillkürlich einen Satz und flüchtete sich mit ein paar schnellen Schritten in einen Nebenraum, in dem Votivbilder hingen. Allesamt zeigten sie stürmische Wellen und kenternde Schiffe. Gegenüber von den Bildern war eine kleine Galionsfigur aus rotbraunem Holz angebracht. Die Meerjungfrau hing an der Wand und hielt mit anmutiger Geste die Hände an den Kopf gelegt. »Nereida«, las Lis auf dem Schildchen neben der Figur.
    Ganz nahe ging Lis heran und betrachtete das Haar, das helmartig um den Kopf lag, sah die ausdrucksvollen Brauen und einen sensiblen, breiten Mund, der schon lange nicht mehr gelächelt hatte. Das Traurigste am Gesicht der Meerjungfrau aber waren ihre Augen. Starr und dunkel sahen sie an Lis vorbei ins Nichts, als träumte die Nixe vom Meer, dem man sie entrissen hatte. Die zierlichen Finger lagen an ihrem Kopf, als versuchte sie die Erinnerung festzuhalten. Lis blieb versunken in den Anblick stehen und atmete tief den Duft nach altem Holz und frischer Farbe ein, der durch den Raum zog. Regentropfen prasselten gegen das Fenster.
    Eine Hand legte sich schwer auf ihre Schulter. Sie machte einen erschrockenen Satz und fuhr herum. »Levin…«, stieß sie hervor, aber schon im selben Moment sah sie, dass es gar nicht ihr Bruder war, der hinter ihr stand.
    »Komm mit«, sagte der Museumswächter und drehte sich auf dem Absatz um. Levin erschien in der Tür, offensichtlich von ihrem Ruf aufgeschreckt. Sie zuckte so gleichgültig, wie sie nach dem Schreck konnte, die Schultern und bedeutete ihm, dem Wächter zu folgen. Schweigend stiegen sie die breiten Marmortreppen hinunter, bis sie wieder bei den Wappennixen angelangt waren. Mit Erstaunen bemerkte Lis, dass der Eingang des Museums, die Flügeltür aus Holz, nun verschlossen war. Der Mann kehrte nicht zum Kassentisch zurück, sondern wandte sich am Ende der Treppe nach rechts und ging an einem riesigen Schiffsanker vorbei zu einer Tür mit rundem Goldknauf. Lautlos schwang die Tür auf. Dahinter war ein schmales Büro, in dem ein schmuckloser Tisch und mehrere Stühle standen. Die Wand war voller Bücherregale, die sich unter ihrer Last bogen.
    »Setzt euch«, sagte der Mann nun etwas freundlicher und deutete auf zwei Stühle. Zögernd ließen sie sich darauf nieder. Lis schluckte. Sie war froh, nicht allein hier zu sein. Was der Mann auch vorhaben mochte, sie waren immerhin zu zweit. Levin schien sich keine Gedanken zu machen.
    »Ich heiße Kajetan«, sagte der Mann plötzlich und streckte ihnen eine sehnige Hand hin, die Levin ohne zu zögern ergriff.
    »Levin«, sagte er. »Und das ist meine Schwester Lis.«
    Der Mann nickte und zog sich ebenfalls einen Stuhl heran. »Ich möchte wissen, woher diese Inschrift stammt«, sagte er dann geradeheraus.
    »Es ist ein Schriftstück von unserer Oma…«
    »Ja, diese Geschichte kenne ich bereits. Ich möchte wissen, woher sie wirklich stammt.«
    Wenn Levin verdattert war, ließ er es sich nicht anmerken. Lis hoffte, der Mann würde nicht bemerken, dass sie nervös wurde.
    »Wie ich schon sagte, unsere Oma hat die Inschrift aufgemalt – in einem Brief. Woher sie sie hat, weiß ich nicht«, log Levin, ohne mit der Wimper zu zucken.
    Kajetan blickte ihn lange mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Lis war sicher, dass er kein Wort von dem glaubte, was ihr Bruder sagte.
    »Ist denn etwas Ungewöhnliches damit?«, fragte Levin arglos.
    Kajetan verschränkte die Arme. »Allerdings«, sagte er. »Wo immer eure Großmutter gegraben haben mag, sie muss tief gegraben haben. Sehr tief.«
    Eine unangenehme Pause entstand, in der sie nur das Geräusch des Regens hörten. Lis knetete ihre Finger und hoffte inständig, dass Levin etwas sagen würde. Doch Levin dachte nicht daran. Ruhig und mit fragender Miene lehnte er sich zurück und
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