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Die rote Farbe des Schnees

Die rote Farbe des Schnees

Titel: Die rote Farbe des Schnees
Autoren: Evelyn Holmy
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zwischen den dicken Eichenstämmen auf, um dann
endgültig vom Grün des Waldes geschluckt zu werden.
    Joan gleitet rücklings ins
Wasser, atmet tief aus und entspannt sich. Sie lässt sich auf der glatten
Wasserfläche treiben, die dann und wann von einer leichten Böe gekräuselt wird,
rudert nur ab und zu einmal mit den abgespreizten Armen, um nicht unterzugehen.
Versonnen stimmt sie zum Gezirpe der Grillen die traurigschöne Melodie ihrer
Weise an. Ihr langes, dichtes, durch die Sonne flachsblond gebleichtes Haar
schwebt in weiten Locken um sie herum. Es kitzelt sie am braun gebrannten
Bauch, umkringelt ihre schlanke Taille. Verträumt blickt sie in einen
azurblauen Himmel empor und beobachtet, wie eine weiße Schäfchenwolke über ihr
vorbeizieht. Sie nimmt eine Hand aus dem Wasser, um sich an der Stupsnase zu
kratzen. Sogleich perlen ihr Wassertropfen über die leichten Sommersprossen auf
Nase und Wangen. Abwägend blinzelt sie gegen die absteigende Sonne, deren Stand
ihr verrät, dass sie sich eilen muss. Denn die gelbe, hitzeflimmernde Scheibe
steht schon recht tief und hat bereits von ihrer Kraft verloren, mit der sie
den ganzen Tag über unbarmherzig auf die Welt herabstrahlte. Joan hat nur eine
vage Ahnung von der Größe der Welt. In den sechzehn Jahren ihres jungen Lebens
hat sie zwar schon einiges von ihr gesehen. Zumindest mehr, als gewöhnliche
Bauernmädchen ihres Alters. Doch ihre Welt hat sich arg verkleinert.
    Sie summt die Melodie zu Ende
und träumt wieder von Leander, dem schönen Spielmann, der sie einst mit diesem
Lied unterhielt. Damals, in ihrer letzten Nacht auf der väterlichen Burg. Er
wollte es am nächsten Tag noch einmal nur für sie allein spielen, weil es ihr
so gut gefiel, doch da hatte sie allem schon den Rücken gekehrt.
    Sie hält den Atem an und taucht
unter. Nach ein paar langen Zügen kommt sie wieder in der Mitte des großen
Weihers zum Vorschein. Sie blickt geradeaus auf die nahestehenden, uralten
Weiden und dann wieder zum Rand des Eichenwaldes. Die Blätter der Bäume
rascheln in einer leichten Brise. Den ganzen Tag hat sie im kühlen Wald
verbracht und mit Gwen Kräuter gesammelt. Der Sonnentag war günstig dafür,
überdies die richtige Mondphase und dass es am vorhergehenden Tage Regen
gegeben hatte, welcher die Pflanzen rein wusch. Viel konnte sie bereits vom
reichen Erfahrungsschatz der klugen Kräuterfrau schöpfen. Zwar rümpfen die
Leute im Dorf geringschätzig die Nasen, weil sie sich mit der sonderbaren Alten
abgibt, aber das ist Joan gleich. Sie mag Gwen mit ihrer ruhigen, besonnenen
Art, mit ihrer Weisheit.
    Sie denkt daran, dass die Zeit
drängt und seufzt. Denn sie verspürt nicht die geringste Lust, aus dem Wasser
heraus zu kommen. Woanders als im Wald und hier im Weiher kann man die Hitze
nur schwerlich ertragen. Und dabei ist es erst Ende April. Die Bauern stöhnen
in Erwartung des üblichen Ungeziefers, das solch ein warmer Frühling
erfahrungsgemäß zur Plage werden lässt und die Ernten schmälert. Früher
kümmerten Joan das Wetter und die Sorgen der Bauern wenig. Das Leben als
Tochter eines reichen Earls ist vergleichsweise unbeschwert. Insbesondere dann,
wenn es sich um das Lieblingskind von Raymond of Thornsby handelt, dem
unzählige Freiheiten eingeräumt werden. Doch die Zeiten haben sich gewandelt,
haben auch sie verändert, ihre Sinne für Gerechtigkeit, das Leid und Elend
anderer geschärft, sie Verantwortung für ihr Tun gelehrt.
    Sie schwimmt noch eine kleine
Runde und wendet dann schweren Herzens in Richtung ihrer Kleidung, welche sie
im Schilf am Ufer sicher verborgen hat. Noch einmal würden ihr diese
rotznäsigen kleinen Bauernlümmel nicht die Sachen vor der Nase wegstehlen. Am
Horizont gewahrt sie auf dem höchsten Punkt der Umgebung die alte Festung, was
ihr den mittlerweile vertrauten, wehmütigen Stich ins Herz versetzt, welcher
wohl jedem bekannt ist, der seiner Wurzeln beraubt wurde. Denn vor nicht allzu
langer Zeit war die nunmehr annähernd verwaiste Burg einmal ihr Zuhause
gewesen. Damals konnte sie sich nicht im Traum vorstellen, eines Tages unter
größtenteils halbfreien Bauern im nahen Dorf Thornsby zu leben. Doch das war
noch das Geringste, was ihr widerfahren konnte, seit ihr Vater, der einstige
Earl, des Hochverrates bezichtigt und hingerichtet wurde. Sie will nicht daran
denken und blickt seufzend weg zu ihren Sachen. Dorrit wird sie bereits
erwarten und sie womöglich beim Anblick ihres nassen Haares schelten.
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