Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rollbahn

Die Rollbahn

Titel: Die Rollbahn
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
Meer, das einen Damm gebrochen hatte und nun herniederstürzte in die Niederungen. Dem Gurgeln folgte das dumpfe Grollen der Abschüsse. Es war, als wäre die Luft im Zimmer plötzlich weggesaugt … selbst die schwache Wanda starrte empor an die Balkendecke und suchte mit den zerschnittenen Armen die Hand Igors.
    »Artiljärija«, sagte sie dumpf. »Pretsmjärtnuj tschas.« (»Artillerie! Die Todesstunde!«)
    »Mamuschka!« schrie Vera auf. Sie fiel neben der Mutter auf den Boden und legte ihren Kopf zwischen ihre Brüste.
    In diesem Augenblick schlug es ein. Die Erde riß auf unter einem gewaltigen Feuerschlag … 30-cm-Granaten orgelten heran und pflügten den Wald durch, zerstampften die Straße, fegten den Ziehbrunnen weg, die Banja, die Scheunen … Als ein Volltreffer das Haus traf, hörten sie den Krach des Einschlages nicht mehr. Sie sahen nur die Decken zusammenbrechen, die Wände kamen auf sie zu, giftiger, beißender Qualm nahm ihnen den Atem … Dann war es vorbei.
    Vereint starben Igor, Wanda und Vera … sie knieten am Lager Mamuschkas, als der Volltreffer das Haus zermalmte. Sie hielten sich an den Händen und beteten, bis die Balken sie erschlugen. Auf dem Hof wurde der Kübelwagen zerfetzt … der Gefreite, der ihn fuhr und sich gerade eine Zigarette ansteckte, flog durch die Nachtluft und wurde von einer Zaunlatte aufgespießt. Er schrie noch einmal gräßlich, ehe er mit Händen und Beinen um sich schlug und starb.
    Auf einem Balken lag Dr. Wensky und starrte in den Nachthimmel. Die Feuersäule der schweren sowjetischen Artillerie wanderte weiter, auf Prushany zu. Vernichtung der rückwärtigen Verbindungen, hieß ihr Auftrag. Sie erfüllten ihn vorbildlich … die Straße, die sie zog, war ein Streifen verbrannter Erde, mit Mondkratern durchsetzt.
    Mein Gott, dachte Dr. Wensky. Es ist merkwürdig, daß ich an dich denke, wenn es zu Ende geht. Ich, der Nihilist. Sicherlich hast du geglaubt, daß mich das Sterben überzeugt … Das Gegenteil ist der Fall. Mein Tod ist so sinnlos, daß eigentlich nur du einen Sinn darin finden kannst. Ich habe einem Menschen geholfen … und dafür sterbe ich jetzt! Dem barmherzigen Samariter erging es anders!
    Er tastete mit beiden Händen an seinen Leib. Dort, wo der linke Oberschenkel in die Beckenknochen mündet, war ein tiefer Riß, ein klaffendes Loch, in dem ein zwei Hände großes Stück Eisen stak. In rhythmischen Schlägen strömte das Blut über seine tastenden Finger.
    »Ein klarer Fall«, sagte er laut. »Ich werde verbluten. Selbst den Genuß des Sterbens darf ich auskosten. Ich danke dir, Gott!«
    Er legte sich etwas auf die Seite, drückte das zerfetzte Bein mit beiden Händen nach und lag, mit dem Gesicht auf dem Balken so, als wollte er schlafen.
    In die Wälder zwischen Prushany und Linowo hämmerte die sowjetische Artillerie. Nach dem Feuerschlag der 30-cm-Geschütze zerpflügten die mittleren Kaliber die Troßstellungen, die Bataillons- und Regimentsgefechtsstände, die Zufahrtswege des Nachschubs von den Artillerieprotzen und die Laufgräben zur HKL.
    Bis zum Morgen würde das so gehen … Tausende von Granaten, tausend Tote, tausendfaches Entsetzen, bis im Morgengrauen die Panzer vorbrachen und die Infanterie mit ihrem fanatischen Urräää-Geschrei gegen die dünne deutsche Linie anrannte.
    In dem zerstörten Haus knackte es. Die Balken verschoben sich unter der drückenden Last und fielen zusammen. Das Haus streckte sich, so wie sich ein Toter streckt.
    Vor Wenskys Augen wurde es trüb. Er umklammerte den Balken, um nicht herunterzufallen und am Ende seines Lebens noch den bestialischen Schmerz zu spüren, der ihm jetzt abging. Das abgetrennte, nur an Fetzen hängende Bein lag breit und ruhig auf dem Balken … von ihm hinunter floß das Blut in einem breiten Bach und versickerte in dem aufgewühlten Boden.
    Das Herz begann zu flattern. Wensky stellte es mit der Erwartung eines Arztes fest, der am eigenen Körper ein Experiment durchführt. Das Blut wurde weniger … die Herzmuskeln pumpten ins Leere … auch die Lunge wurde nicht mehr durchblutet … das Atmen wurde schwerer … aber das Gefühl, leichter zu werden, so leicht wie eine Feder, nahm zu.
    Gleich wird eine große Müdigkeit kommen, diagnostizierte Wensky. Nach dieser Müdigkeit erfolgt die Bewußtlosigkeit, bis das Herz aufhört und das sinnlos gewordene Pumpen einstellt.
    Ein Schüttelfrost durchjagte ihn plötzlich. Er seufzte und legte den Kopf flach auf den Balken.
    Das Ende
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher