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Die Rollbahn

Die Rollbahn

Titel: Die Rollbahn
Autoren: Heinz G. Konsalik
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…«
    Dr. Wensky winkte ab. »Ich werde die Arme abbinden und die Bäuerin dann zu uns bringen. Hier sehen wir weiter, was geschehen kann.«
    »Ich halte das für eine übertriebene Pflichterfüllung.«
    »Akzeptiert!« Dr. Wensky winkte einem Sanitäter. »Mütze und Mantel!« rief er. »Und lassen Sie den Kübel fertig machen!« Er wandte sich wieder zu Bohr und klopfte dem zitternden Igor auf die schmalen Schultern. »Dieser arme Kerl hier hätte, statt uns zu verpflegen, auch Minen legen können. Er hatte die Möglichkeit, das Lazarett in die Luft zu sprengen. Was tat er? Er schickte uns Eier und Hühner.«
    »Um sich bei uns einzuschmeicheln.«
    »Hatte er das nötig?« Dr. Wensky schlüpfte in seinen Mantel und setzte die Schirmmütze auf. Der Kübelwagen, von einem Gefreiten gelenkt, rollte heran. »Man darf nicht in den Fehler verfallen, lieber Kollege, im Kriege, besonders im Kriege, die Menschen zu katalogisieren. Von einer bestimmten Grenze ab gibt es keine Deutschen, Russen, Tataren, Mongolen, Engländer, Franzosen, Neger oder Malaien mehr, sondern nur noch Menschen. Einfach Menschen! Und diese Grenze ist der Schmerz, ist der Hilfeschrei! Wenn wir diese Unterschiede verlernt haben, wird es Zeit, daß wir uns darauf besinnen, daß auch wir einmal um Hilfe schreien könnten und dann die Bereitschaft der anderen erhoffen.«
    Er stieg in den Kübelwagen. Igor Tscherasow sprang neben ihn auf den Sitz … das Panjepferd ließ er zurück. Dr. Bohr trat an Wensky heran. Seine Stimme war heiser.
    »Sie werden ja ein Philanthrop, Doktor! Ich dachte immer, Sie hassen den Menschen?«
    »Tat ich das?« Dr. Wensky beugte sich zu Dr. Bohr vor. »Die Inkonsequenz ist ein typisches Charaktermerkmal des Menschen. Hätte er es nicht, sähe die Welt noch wüster und leerer aus …«
    Der kleine Wagen fuhr an und verschwand keuchend in der Dunkelheit. Dr. Bohr sah noch eine Hand winken … er winkte zurück, mit einem unguten Gefühl im Magen und einer Sorge, die er mit Worten nicht umreißen konnte …
    Eine Stunde später kniete Dr. Wensky vor Wanda Tscherasowa neben dem Strohbett und hatte ihr beide Hände abgebunden. Igor hielt eine Stall-Laterne, Vera wusch mit einem alten Lappen und Wasser in einer zerbrochenen Schüssel den blutbesudelten Körper der Mutter ab.
    »Wird mein Täubchen leben?« fragte der alte Igor. Die Hand, die die Laterne hielt, zitterte nicht, aber die Stimme war weit weg, wie weggejagt von der Angst, die ihn durchströmte.
    Dr. Wensky wickelte die Verbände über die zerfetzten Handgelenke. Sie hat ein stumpfes Messer genommen, dachte er dabei. Ihre Adern sind mehr zerrissen, als zerschnitten. Wie muß sie mit der stumpfen Klinge gedrückt und gestochen haben, ehe sie den Puls traf und durchtrennte!
    »Ich glaube es, Igor. Aber Gott muß mithelfen! Kennst du noch Gott?«
    »Ich habe ihn nie vergessen.«
    »Trotzdem er Rußland verlassen hat?«
    »Eben darum, Herr. Wer fern ist, wird mehr geliebt als der, der neben einem sitzt.«
    Dr. Wensky erhob sich und klopfte den Staub von seinen Knien. Er knöpfte den Mantel wieder zu und griff nach seiner Mütze.
    »Hast du einen Karren?«
    »Eine Handkarre, Doktor.«
    »Deine Frau muß ins Lazarett. Ich habe nur dort die Möglichkeit, sie zu retten.«
    »Dann nimm sie in deinem Wagen mit, Towaritsch.«
    »Mich könnten die Partisanen beschießen … dir tun sie nichts.«
    »Ich werde mitfahren und mich vorn auf die Haube setzen. Wenn sie schießen, sollen sie mich zuerst treffen.«
    Wensky betrachtete den alten Tscherasow und schüttelte den Kopf.
    »Du bist kein Russe, Igor.«
    »Warum, Herr?«
    »Du müßtest mich hassen. Wer ein Russe ist, verflucht die Deutschen.«
    »Nicht alle, Herr. Warum soll ich Sie verfluchen? Weil Sie hier sind? Wollten Sie denn hier sein? Wäre es nicht schöner, wenn Sie in Ihrem Hause wären und schliefen jetzt in Ihrem Bett? Man hat Ihnen befohlen, hierher zu kommen. Und Sie haben gehorcht, weil Sie Ihren Kopf behalten wollten. Sehen Sie … ist es anders bei uns, bei allen Völkern? Wir alle werden nur befohlen, und wir alle gehorchen nur … wir Kleinen, Doktor. Immer ist einer da, der sagt: Du mußt! Bei mir, bei Ihnen, bei allen Menschen. Warum sollen wir Kleinen uns hassen, wo wir doch nur Kaninchen sind, die sich vor dem Hetzhund verstecken …?«
    Dr. Wensky wollte etwas sagen, aber er kam nicht mehr dazu, dem alten Tscherasow zu antworten.
    Durch den Nachthimmel gurgelte es … es war, als sei der Himmel ein riesiges
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