Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rollbahn

Die Rollbahn

Titel: Die Rollbahn
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
rannte weiter.
    Er stampfte die Erde unter sich weg wie ein rennender Büffel. Er rannte und kannte keine Lunge mehr, keinen Atem, keine Richtung, keine Muskeln, keine Schwere … er rannte wie nie ein Mensch gerannt war … aufgelöst, ohne Gedanken mehr, ohne Gefühl … alles, was ein Mensch hat, empfindet, von sich geben kann, lag in seinen Beinen, lag in dem einen Willen … rennen … nur rennen … rennen … rennen …
    Die Winteroffensive der Sowjets war angelaufen.
    263 Divisionen stürmten vor.
    Und vor ihnen her lief ein einzelner Mann, seinen Kameraden auf dem Rücken.
    Wenige Tage später kam der polnische Friseur Pawlek Staniswortsky zu Elsbeth Holzer in die verlassene Schule. Er klopfte nach Einbruch der Dunkelheit zaghaft an die Scheibe ihres Fensters. Mit einem Schrei fuhr Elsbeth empor. Sie hatte gerade gelesen.
    »Wer ist da?« rief sie und wich vom Fenster zurück. In Serok hatten Polen auf die erleuchteten Fenster der Deutschen geschossen und drei Menschen getötet.
    »Pawlek! Keine Angst, pany professori …«
    Sie ging zögernd zum Fenster, öffnete es und beugte sich heraus. Es war wirklich Pawlek Staniswortsky. Er stand im Schatten des wilden Weines, der die ganze Hauswand der Schule und auch das Fenster umrankte. Vor dem Weg, zur Straße hin, standen Fliederbüsche und Rotdorn. In dem Gewirr der Zweige war die Gestalt wie ein knorriger Stamm.
    »Was wollen Sie, Pawlek?« Elsbeths Stimme zitterte.
    Staniswortsky hob die Hand. »Hören Sie, pany? Ganz weit weg … da … wenn der Wind auf Nasielsk steht … Da … da ist es wieder. Hören Sie, pany …«
    Elsbeth hörte es. Ein fernes, dumpfes Grollen lag in den Wolken, die über die Stadt trieben. Ein gefährliches Donnern.
    »Die Sowjets!« Pawleks Gesicht tauchte aus der Dunkelheit auf. »Sie kommen. Der Tag der Befreiung vom deutschen Joch nähert sich. Der Tag der Rache, pany!« Elsbeth schauerte zurück. Sie legte die Hände vor die Brust und starrte Staniswortsky aus schreckensweiten Augen an. »Die Offensive hat begonnen … alle deutschen Truppen gehen wieder zurück. Deutschland ist kaputt, pany!«
    »Ich weiß es, Pawlek«, sagte Elsbeth heiser vor Angst.
    »Wenn die Sowjets über die Grenze kommen, ich habe Pferd für dich!«
    »Was haben Sie?«
    »Ein Pferd für pany professori. Ein altes, aber gutes Pferd. Es steht bei mir im Hof. Mit ihm kann pany weiterreiten, zurück nach Deutschland. Das ist Pawleks Dank für Anständigkeit …«
    »Ich danke Ihnen …« Elsbeth lehnte den Kopf an den Fensterrahmen. Plötzlich rannen ihr die Tränen über das bleiche Gesicht. Es war wie ein innerer Zusammenbruch … sie schluchzte haltlos und umklammerte das Fenster. Pawlek Staniswortsky kaute auf seiner Unterlippe.
    »Nicht weinen, pany. Sie können reiten?«
    »Ja. Ich habe es bei Rehmdes gelernt.«
    »Rehmdes sind auch schon weg! Heute nacht. Mit dem letzten Zug.« Pawlek schüttelte den Kopf. »Pany professori hat man vergessen. Es gibt keine Freunde mehr. Überall nur Feinde.«
    »Sind die Kinder gut hinausgekommen?«
    »Ja. Wenn die Strecke hinter Warschau nach Kutno und Posen nicht gesprengt wird, sobald der Zug kommt.«
    »Aber es sind doch Frauen im Zug!«
    »Deutsche Frauen!«
    »Und Kinder!«
    »Die Feinde von morgen! Wir kennen keine Gnade, pany. Wir werden vernichten, was deutsch ist! Wie Ungeziefer werden wir es zertreten! Männer, Frauen und Kinder! Ganz Deutschland!« Pawleks Stimme glühte auf, seine Augen leuchteten fanatisch. »Es soll keine Deutschen mehr geben, die einmal sagen werden: Unsere einzige Ausdehnung liegt im Osten! Wir werden sie so vernichten, daß Deutschland zu groß sein wird für die Überlebenden!«
    »Und mich retten Sie?«
    Staniswortsky schlug den Kragen seines Mantels hoch. Wieder trug der Wind das ferne Grollen heran.
    »Erinnern Sie sich an Lubja Wawara?«
    »Nein.«
    »Sie kam zu Ihnen als Dienstmädchen … vor drei Jahren.«
    »Vor drei Jahren? Da war ein Mädchen Sylvia bei mir.«
    »Es war Lubja Wawara. Sie war eine große Pianistin. Die Deutschen hatten sie in die Fabrik gesteckt. An den Maschinen verlor sie das Gefühl für die Klaviertasten. Dann kamen Sie, pany. Sie nahmen Lubja als Dienstmädchen zu sich. Und bei Ihnen durfte sie Klavier spielen … dort, auf dem Schulklavier. Sie bekam ihre Finger wieder … wenn der Krieg zu Ende ist, wird sie wieder Konzerte geben. Sie haben Polen eine Künstlerin gerettet!«
    »Ich habe es nicht gewußt.«
    »Lubja Wawara ist jetzt in Warschau. Sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher