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Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Titel: Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
Autoren: Ugo Riccarelli
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plötzliche Lustlosigkeit der Erbauer, die hier auf wenigen Metern statt der Ziegelsteine die gänzlich unbedeutende Barriere eines Maschendrahtzaunes hinterlassen hatten.
    Durch diese Öffnung betrachtete Beniamino die Irren, den Verboten seiner Mutter und dem lauten Schimpfen seiner Großmutter zum Trotz. Er klammerte sich an die eisernen Maschen, um die Kranken bei ihrem Rundgang zu beobachten, um gebrummte Reden zu belauschen, um bei jähen Schreien oder unerwarteten Bewegungen zusammenzuzucken.
    Er blieb auch dann staunend stehen, wenn einer von ihnen, wie von einer unhörbaren Stimme gerufen, das unablässige Kreisen oder das auf einer Bank gehaltene Schläfchen unterbrach, seine Trägheit abschüttelte und auf den Rosenbusch zuging, der ein Stück jener metallenen Umzäunung bedeckte.
    Einer nach dem anderen begannen die Irren dann wie eine toll gewordene Herde die Blütenblätter von diesem bunten Wasserfall abzureißen, und sie aßen sie behutsam und freudig, mit der gleichen Andacht, mit der ein gläubiger Mensch die am Altar geweihte Hostie empfangen hätte. Die Irren lächelten, von einer unbegreiflichen Heiterkeit ergriffen, kauten sie die bunten Blumen, und einen Augenblick lang erschienen sie wie glückliche Gespenster.
    Beniamino starrte sie hingerissen an. Er achtete nicht auf die Rufe seiner Großmutter, verharrte reglos und sah diesen Geistern dabei zu, wie sie Rosen aßen.
    Liebend gerne wäre er über das Gitter gestiegen, um diesen seltsamen Zustand, der sie beherrschte, selbst zu erfahren.
    Er hätte sie gerne nachgeahmt.

D IE I DEE MIT der Irrenanstalt hatte seine Großmutter Aida gehabt. Beniaminos Vater war seit wenigen Tagen tot, sekundenschnell dahingerafft, als sein Herz sich heftig in der Brust verkrampft hatte, so dass ihm nur noch Zeit geblieben war, sich wieder auf den Stuhl zu setzen, von dem er sich nach dem Mittagessen soeben erhoben hatte.
    »Vergiss nicht, die Kaninchen zu füttern«, hatte er zu seiner Frau gesagt, wie er es immer tat, bevor er auf den Markt ging, wo er sich, in Ausübung des Berufes, den er von seinem Großvater gelernt hatte, mit dem Verkauf von Wolle und Textilien abmühte.
    Er hatte diese Ermahnung ausgesprochen und dann die Lippen zusammengepresst, als hätte er ein Glas sauren Weines getrunken. Darauf hatte er den Mund zu einem Grinsen verzogen, das Elemira, seiner Frau, wie ein vages Lächeln vorgekommen war, und schließlich war ihm das Kinn auf die Brust gerutscht, als überließe er sich einem Verdauungsschläfchen.
    Tatsächlich hatte Elemira, zumal sie mit dem Abräumen des Geschirrs beschäftigt war, zunächst nicht entscheiden können, ob es sich um eine harmlose häusliche Ruhe handelte, die diesen eingeschlummerten Riesen wie ein Kind aussehen ließ, oder ob die Stille und Unbeweglichkeit doch zu plötzlich eingetreten waren. Also hatte sie, da sie sich zu dem Zeitpunkt noch keine Sorgen machte, ihren Mann daran erinnert, dass sie schon auf andere Geschöpfe, die beiden Kinder nämlich, aufpassen müsse und auf ihre Mutter, die zusehends älter werde, und dass sie einen Haushalt zu führen habe, darum brauche er sie nicht auch noch daran zu erinnern, wie dringend sie sich um die Kaninchen in ihren engen Käfigen unter dem Vordach kümmern müsse. Gewiss, das Gras musste erneuert und der Boden der Kaninchenställe vom Unrat gereinigt werden, sonst wäre ein weit stärkerer Gestank ins Schlafzimmer aufgestiegen als jener der Verrückten, die hinter der Gartenmauer herumlungerten.
    Und während Elemira ärgerlich ihre häuslichen Pflichten wie eine Litanei herunterbetete, hatte sie, die schmutzigen Teller in der Hand, bei ihrem Hin und Her zwischen Tisch und Spüle den Blick nicht vom dem gesenkten Kopf ihres Mannes abgewandt. Da sie jedoch nicht einmal eine Andeutung jenes Schnarchens vernahm, das bei Ignazio unfehlbar bewies, dass er eingeschlafen war, hatte sich ihr leiser Verdacht verstärkt, um dann so dringend zu werden, dass sie gezwungen war, alles stehen- und liegenzulassen. Sie war zu ihm geeilt und hatte seinen Namen in dem gleichen hohen, flehenden Ton gerufen, der aus ihrer Kehle gekommen war, als sie mit Ignazio zum erstenmal die Liebe erlebt hatte.
    So hatte Ignazio sein Leben beendet, hingestreckt auf einem Stuhl an dem Tisch, an dem er sein letztes Mittagessen zu sich genommen hatte, wortkarg und fröhlich, wie er immer gewesen war in all den Jahren, in denen er mit seiner Frau, mit Beniamino, Mara und dieser Nervensäge Aida,
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