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Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)

Titel: Die Residenz des Doktor Rattazzi: Roman (German Edition)
Autoren: Ugo Riccarelli
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Brunnen gefallen, wie Ignazio von nun an immer wieder sagen würde, bis der Tod ihn holte. Jedesmal wenn er es sagte, hieb er sich mit seiner breiten Hand auf den Oberschenkel, um die Wut zu unterstreichen, die ihn beim Anblick seines zugrunde gerichteten Sohnes packte. Denn Professor Luciani musste ihm die Situation gar nicht haargenau erklären, Ignazio hatte augenblicklich begriffen, dass Beniamino, der zeitlebens kerzengerade und schnell wie ein Blitz gewesen war, nie mehr derselbe sein würde. Dieses wie das Holz eines Rebstocks verdrehte Bein war nämlich zunächst gedehnt, von Eisen und Drähten durchbohrt und dann wieder zusammengefügt worden, doch nach beendeter Prozedur trotzdem ein wenig kürzer als das andere geblieben, und so zwang es den Jungen fortan zu einem hinkenden und ein wenig schiefen Gang.
    Überdies waren die Wochen des Krankenhausaufenthaltes, wie zum Hohn, ausgerechnet in die Zeit nach dem Sommer gefallen. Also hatte er die letzten Prüfungen nicht ablegen können und die Promotion auf die nahe Zukunft verschieben müssen. Und jetzt, da sie gekommen war, war diese Zukunft eine nur mit quälenden Sorgen, mit Rechnungen, die bezahlt, mit Aufgaben, die bewältigt werden mussten, angefüllte Gegenwart.
    Umgeben von Stoffballen, die unentzifferbaren Hefte aufgeschlagen vor sich, fühlte Beniamino sich in einem Meer der Vergeblichkeit ertrinken. Er drehte und wendete die Aufzeichnungen des Vaters hin und her, ohne eine Ordnung, ein Konzept zu finden. Also stand er auf und ging zu den Regalen mit den Musterkatalogen, um die Stoffe zwischen Daumen und Zeigefinger zu befühlen, wie er es immer bei Ignazio gesehen hatte, vielleicht weil er hoffte, in dieser Geste verberge sich der Schlüssel für die Tür zu einer Wahrheit, die ihm noch verschlossen und rätselhaft war.
    Um diesem Leerlauf zu entfliehen, ging Beniamino von Zeit zu Zeit nach draußen, lehnte sich an den Maschendraht, der den Garten von der Irrenanstalt trennte, und sah den Irren zu, wie er es seit seiner Kindheit tat. Er beobachtete ihren zwanghaft schlenkernden Gang und dachte über diese ihrem Schicksal überlassenen Existenzen nach, die ihm jetzt mehr denn je ziellos dahinzutreiben schienen. Wie er selbst.
    Unerwartet kam die alte Aida ihm zu Hilfe. Als er wieder einmal versunken an der Umzäunung stand, bemerkte er plötzlich den winzigen Körper der Großmutter neben sich.
    Sie lehnte wie er am Gitter und betrachtete schweigend das Irrenhaus. Zum erstenmal machte sie ihm keine Vorwürfe, befahl ihm nicht schreiend, er solle aufhören, diese verlorenen Seelen anzugaffen, denn es sei nicht anständig, dem Unglück hinterherzuschnüffeln. Zum erstenmal stand sie stumm neben ihm, fast als hätten sie etwas gemein.
    In diesem Augenblick spürte Beniamino das Leid, das auch über sie gekommen war, die Angst vor einer unbekannten Zukunft und vor dem Wirrwarr der Tage, die ihr noch blieben, gefangen zwischen dem zweistöckigen Häuschen und der Irrenanstalt, einer in Tränen aufgelösten Tochter und einem hinkenden Enkel, der unfassbar war wie die Luft. Statt dieses Schweigens, dachte Beniamino, hätte er lieber wieder ihr Gezeter, ihre Vorhaltungen gehört, alles, was die Normalität wieder gegenwärtig und lebendig gemacht hätte, die zusammen mit Ignazios Leben für immer verschwunden schien.
    Aber Aida stand stumm da, die Finger um die eisernen Maschen geklammert, und ließ die Gedanken in ihrem Kopf kreisen, wie sie die Verrückten auf dem Hof kreisen sah. Aida suchte, sie suchte nach einer Idee, wie sie diesem Enkel helfen konnte, dessen Hilflosigkeit und Verlorenheit sie spürte. Beniamino hätte ihre ganze Freude sein sollen, die Genugtuung am Ende eines Lebens, das aus Mühsal und Plackerei für Haus und Tochter bestand, er hätte dieses elende Dasein verbessern sollen, das sie, ein Kind von Bauern, Tag für Tag als harte Bissen oft widerwillig hatte schlucken müssen.
    Inzwischen zerfaserte ihr Gedächtnis im Nebel, und oft tauchten als plötzliche Blitze Namen und Personen vor ihr auf, denen ein Gesicht oder einen Ort zuzuordnen ihr schwerfiel. Woran sie sich aber genau erinnerte in dieser verfluchten Welt, das waren die Berge von Wäsche, die sie hatte waschen müssen, damit sie ein paar Groschen auf den Tisch legen konnte, als Unterstützung für Antonio, ihren Mann, diesen armen Teufel, bevor das Fieber ihn dahinraffte. Und die Wäschestapel erinnerten sie an ihre von der Feuchtigkeit im Wassergraben verkrümmten, von der
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