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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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Himmel. Candide hörte nichts mehr, er sah lediglich, wie sich die Lippen von Nawas Mutter bewegten, die auf ihre Tochter einsprach, sah, wie sich die Lippen der Schwangeren bewegten, die zu ihm redete, und zwar mit einer Miene, als spreche sie in der Tat zu einem Hausziegenbock, der in den Gemüsegarten eingedrungen war. Unvermittelt brach der Lärm ab.
»…wenn du nur nicht so dreckig wärst«, sagte die Schwangere. »Schämst du dich denn kein bißchen?« Sie wandte sich ab und schaute zum Hügel hinüber.
Aus dem lila Nebel kamen auf allen vieren Schatten gekrochen. Sie bewegten sich unsicher und plump und kippten von Zeit zu Zeit um, wobei sie mit dem Kopf gegen den Boden stießen. Zwischen ihnen ging das junge Mädchen von vorhin, sie beugte sich über sie, berührte und schubste sie vorwärts, und einer nach dem andern rappelten sich die Schatten wieder auf, nahmen eine gerade Haltung an und strebten, anfangs noch stolpernd, dann aber immer festeren Schritts, dem Wald zu. Es sind die Herren, hämmerte es in Candides Kopf, die Herren. Ich kann’s nicht glauben, aber es ist so. Was soll ich tun? Er sah zu Nawa hin. Sie schlief. Ihre Mutter saß neben ihr im Gras, sie aber hatte sich zusammengekuschelt und schlief, die Hand der Mutter fest in der ihren.
»Wie schwach sie alle sind«, sagte die Schwangere. »Es wird wieder Zeit für eine gründlichere Säuberung. Sieh doch nur, wie sie dauernd stolpern… Mit solchen Gehilfen bringen wir die Besetzung nie zu Ende.«
Nawas Mutter gab etwas Unverständliches zur Antwort, und dann entspann sich eine Unterhaltung, deren Sinn Candide nicht begriff. Er schnappte nur einzelne Wörter auf, wie seinerzeit in den Fiebergespinsten des Horchers. So stand er einfach da und beobachtete, wie die Junge den Hügel herunterkam und dabei einen plumpen Handfresser an der Pfote hinter sich herschleppte. Warum steh’ ich hier noch ‘rum, dachte er, irgendwas wollte ich von ihnen, denn sie sind die Herren… Er konnte sich nicht erinnern.
»Ich stehe eben und basta«, sagte er laut und ärgerlich. »Sie verjagen mich nicht mehr, also steh’ ich da. Wie ein Schatten.«
Die Schwangere bedachte ihn mit einem flüchtigen Blick und wandte sich wieder ab.
Die Junge trat zu ihnen und sagte etwas, wobei sie auf den Handfresser wies. Die beiden anderen Frauen musterten das Ungeheuer aufmerksam; die Schwangere erhob sich sogar leicht aus ihrem Sessel. Der riesige Handfresser, der Schrecken aller Dorfkinder, fiepte kläglich, machte vage Versuche, sich loszureißen, und seine furchterregenden Hornkiefer öffneten und schlossen sich kraftlos. Nawas Mutter packte den Unterkiefer des Tieres und renkte ihn mit einer kräftigen, sicheren Bewegung aus. Der Handfresser schluchzte auf und erstarrte, seine Augen überzogen sich mit einem pergamentenen Schleier. Die Schwangere sagte: »…reicht offenbar nicht aus… merk dir’s, Kleine… schwache Kiefer, die Augen öffnen sich nur halb… ist wahrscheinlich nicht widerstandsfähig und daher ungeeignet, womöglich sogar schädlich wie jeder Irrtum… Wir müssen eine Säuberung vornehmen, den Standort wechseln und auch hier alles säubern…« – »… Hügel… Trockenheit und Staub…«, hörte Candide das Mädchen sagen, und: »… Der Wald kommt zum Stehen… das weiß ich noch nicht… ihr habt mir’s aber ganz anders erzählt…« – »… versuch’s ruhig, na los!«
Die Junge schleifte den Handfresser zur Seite, trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn eine Weile. Es war eine Art Abschätzen. Ihr Gesicht wurde ernst, zeigte sogar eine gewisse Anspannung. Das Tier schwankte auf seinen plumpen Beinen, bewegte trübsinnig den verbliebenen Kiefer und knirschte schwach: »Na siehst du«, sagte die Schwangere. Das Mädchen trat nun entschlossen vor das Tier und ging in die Hocke, dabei die Hände auf die Knie stützend. Der Handfresser begann plötzlich am ganzen Leib zu zittern und kippte auf die Seite, alle viere von sich gestreckt, so als wäre ein Zentnergewicht auf ihn niedergekracht. Die Frauen lachten. Nawas Mutter sagte: »Nun hör schon auf, warum glaubst du uns nicht?«
Das Mädchen gab keine Antwort. Sie stand vor dem Handfresser und beobachtete, wie er langsam und vorsichtig die Pfoten unter sich zog, aufzustehen versuchte. Ihr Gesicht wurde spitz. Sie riß das Tier mit einem Ruck in die Höhe, stellte es auf die Beine und machte eine Bewegung, als wollte sie es umarmen. Von einer ihrer Handflächen glitt ein violetter
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