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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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winkte beschwichtigend ab. »Ist ja gut, meine Liebe«, sagte sie, »ich hör’ schon auf. Sei mir nicht böse, Scherz ist Scherz. Wir freuen uns einfach, daß du deine Tochter wiedergefunden hast. Das ist doch ein unwahrscheinliches Glück.«
»Gehn wir nun an die Arbeit oder nicht?« fragte Nawas Mutter. »Wie lange wollen wir uns hier noch mit Geschwätz befassen.«
»Ich geh’ ja schon«, sagte die Junge, »hör auf zu schimpfen. Jetzt beginnt sowieso gleich der Ausstoß.«
Sie nickte, lächelte Candide nochmals zu und rannte leichtfüßig den Hügel hinauf. Candide schaute ihr hinterher – sie lief exakt, wie aufgezogen, nicht wie eine Frau. Sie hatte die Kuppe erreicht und tauchte, ohne stehenzubleiben, in den violetten Nebel ein.
»Das Spinnenbassin ist noch nicht gereinigt«, sagte die Schwangere besorgt. »Dauernd haben wir Scherereien mit den Bautrupps… Wie verfahren wir denn nun?«
»Macht nichts«, sagte Nawas Mutter. »Gehn wir eben ins Tal ‘runter.«
»In Ordnung, trotzdem ist’s ärgerlich – sich mit einem halb erwachsenen Menschen abzuquälen, ihn bis ins Tal zu tragen, wo wir doch unser eigenes Bassin haben.«
Sie zuckte heftig die Schultern und krümmte sich plötzlich zusammen.
»Du solltest dich hinsetzen«, sagte Nawas Mutter, blickte sich suchend um und schnalzte, als sie den Schatten entdeckte, mit den Fingern.
Einer der Schatten setzte sich sogleich in Bewegung, eilte, vor Hast mehrmals im Gras ausrutschend, herbei, ließ sich vor den Frauen auf die Knie nieder und verschwamm dann auf seltsame Weise, wurde krumm und platt.
Candide klappte mit den Augen: Der Schatten war verschwunden, an einer Stelle befand sich ein bequemer, behaglicher Sessel. Die Schwangere ließ sich mit erleichtertem Ächzen auf den weichen Sitz sinken und lehnte den Kopf zurück.
»Es ist bald soweit«, maunzte sie und streckte zufrieden die Beine aus. »Wenn’s nur endlich soweit wäre…«
Nawas Mutter ging vor ihrer Tochter in die Hocke und schaute ihr in die Augen.
»Groß bist du geworden«, sagte sie. »Und verwildert. Freust du dich, daß wir uns gefunden haben?«
»Na und ob«, sagte Nawa unsicher. »Du bist doch meine Mutter. Ich hab’ dich jede Nacht im Traum gesehn… Und das dort ist der Schweiger, Mutter…« Und Nawa begann zu erzählen.
Candide blickte in die Runde, er biß die Kiefer fest aufeinander. Nein, das hier war kein Fieberwahn, wie er anfangs noch gehofft hatte. Es war etwas höchst Gewöhnliches, Natürliches, das er nur noch nicht kannte. Aber gab es im Wald vielleicht wenig Unbekanntes? Er mußte sich daran gewöhnen, wie er sich an den Lärm in seinem Kopf, an die eßbare Erde, an die Schatten und vieles andere gewöhnt hatte. Die Herren, dachte er. Das hier sind die Herren. Sie fürchten nichts. Sie geben den Schatten Befehle. Also sind sie die Herren. Also sind sie es, die die Schatten auf Frauenraub ausschicken. Also sind sie es, die… Er betrachtete die nassen Haare der Frauen. Also… Und dort Nawas Mutter, die von den Schatten geraubt worden war…
»Wo badet ihr?« fragte er. »Und wozu? Wer seid ihr? Was wollt ihr?«
»Ist was?« sagte die Schwangere. »Hör nur, meine Liebe, ich glaube, er fragt uns was.«
»Sei mal einen Augenblick still«, sagte die Mutter zu Nawa, »ich kann deinetwegen nichts verstehen… Was hast du gesagt?« fragte sie die Schwangere.
»Dieses Böckchen dort«, erwiderte die Frau, »will etwas.«
Nawas Mutter sah zu Candide hin und sagte: »Was wird er schon wollen? Wahrscheinlich essen. Sie wollen doch immer essen, und sie essen unheimlich viel, einfach unverständlich, weshalb sie soviel zu essen brauchen, wo sie doch nicht das geringste tun.«
»Ach du Böckchen«, sagte die Schwangere, »armes Böckchen will Gras haben. Bäh-bäh-bäh! – Weißt du eigentlich«, fuhr sie, an Nawas Mutter gewandt, fort, »daß der da ein Mensch von den Weißen Felsen ist? Man stößt jetzt immer häufiger auf sie. Möchte mal wissen, wie die von dort herunterkommen.«
»Schwieriger zu begreifen ist, wie sie dort hochkommen. Wie sie runterkommen, hab’ ich gesehen. Sie lassen sich fallen. Einige gehen drauf dabei, einige bleiben aber auch am Leben.«
»Mutter«, sagte Nawa, »warum schaust du ihn so böse an? Das ist doch der Schweiger! Sag etwas Freundliches zu ihm, sonst ist er gekränkt. Ein Wunder, daß er noch nicht gekränkt ist, ich an seiner Stelle wär’s längst…«
Der Hügel hallte erneut vom Gebrüll wider, schwarze Insektenwolken verdeckten den
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