Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
Vom Netzwerk:
weiter, bis wir nach einiger Zeit zu den Sonderlingen kommen, die Töpfe aus Erde herstellen, das ist vielleicht ‘ne Idee! Mit denen ist es so weit gekommen, weil das blaue Gras durch ihr Dorf ging. Sonst hat’s ihnen aber nichts getan, nicht mal krank sind sie geworden, bloß haben sie eben angefangen, Töpfe aus Erde herzustellen… Bei denen halten wir uns ebenfalls nicht auf, kein Grund, sich bei ihnen aufzuhalten, wir biegen vielmehr gleich rechts ab und sind auch schon an der Tönernen Lichtung.«
Vielleicht sollte ich dich besser doch nicht mitnehmen? dachte Candide. Du warst schon mal dort, der Wald hatte dich bereits in der Mangel, und wer weiß, ob du dich nicht schon, schreiend vor Schmerz und Angst, auf der Erde gewälzt hast, während sich ein junges Mädchen über dich beugte, das hübsche Mäulchen gespitzt und mit ausgebreiteten Kinderarmen.
Wirklich, ich weiß es nicht. Aber gehen muß ich. Um zwei dieser Frauen zu schnappen, wenigstens eine, um alles in Erfahrung zu bringen, mir letzte Klarheit zu verschaffen… Und was weiter? Arme, unglückliche Verdammte. Oder wär’s richtiger zu sagen: glückliche Verdammte? Sie wissen ja nicht, daß sie verdammt sind, daß die Starken ihrer Welt in ihnen lediglich dreckige Wilde sehen, daß die Starken bereits Schwärme gesteuerter Viren auf sie angesetzt haben, Kolonnen von Robotern, die Wände des Waldes, daß für sie alles bereits entschieden ist und – was das schlimmste ist – ihnen die historische Wahrheit hier im Wald nicht zur Seite steht. Sie sind Relikte, durch objektive Gesetzmäßigkeiten zum Untergang verurteilt, und ihnen zu helfen bedeutet, sich gegen den Fortschritt zu stellen, den Fortschritt an einem winzigen Frontabschnitt aufzuhalten. Aber was interessiert mich das eigentlich, dachte Candide, was geht mich ihr Fortschritt an? Es ist nicht mein Fortschritt, und ich nenne ihn auch nur so, weil ich sonst kein passendes Wort finde… Hier entscheidet das Herz, nicht der Kopf. Gesetzmäßigkeiten sind nie gut oder schlecht, sie liegen außerhalb der Moralnormen. Ich jedoch befinde mich nicht außerhalb der Moralnormen! Wäre ich seinerzeit von diesen Frauen aufgelesen worden, hätten sie mich geheilt, umhegt und als ihresgleichen aufgenommen – ich hätte wahrscheinlich leichten Herzens und wie selbstverständlich Partei für diesen Fortschritt ergriffen, hätte Hinkebein und all diese Dörfer nur als ein ärgerliches Überbleibsel betrachtet, mit dem man sich schon viel zu lange abquält… Aber wenn es nun doch nicht so leicht und einfach gegangen wäre? Ich ertrag’ es nicht, wenn man Menschen für Tiere hält. Wer weiß, vielleicht ist das alles nur eine Sache der Terminologie, und wenn ich die Sprache bei diesen Frauen erlernt hätte, würde alles ganz anders klingen: Feinde des Fortschritts, vollgefressene, stumpfsinnige Nichtstuer… Ideale… große Ziele… Naturgesetze… In deren Namen die Hälfte der Bevölkerung ausgerottet wird! Nein, das ist nichts für mich. Was geht’s mich an, daß Hinkebein für sie ein Steinchen im Mahlwerk des Fortschritts ist. Ich werde alles tun, damit das Mahlwerk an diesem Steinchen zum Halten kommt. Wenn es mir nicht gelingen sollte, zur Biostation zu gelangen – und wahrscheinlich schaff ich es nicht –, werde ich alles in meinen Kräften Stehende tun, um dieses Mahlwerk aufzuhalten. Sollte es mir aber doch glücken, die Biostation zu erreichen, nun ja… Seltsam, früher ist es mir nie in den Sinn gekommen, einen Blick von außen auf die Verwaltung zu werfen. Ebensowenig wie es Hinkebein in den Sinn kommt, den Wald als Außenstehender zu betrachten. Und diesen Frauen. Dabei ist das ein interessanter Anblick – die Verwaltung gewissermaßen von oben zu sehn. Aber genug davon, ich werde später drüber nachdenken.
»Also abgemacht«, sagte er. »Übermorgen brechen wir auf.«
»Warum nicht«, antwortete Hinkebein, ohne zu zögern. »Von hier aus biegen wir gleich links ab…«
Auf dem Feld kam plötzlich Lärm auf. Frauen kreischten, und viele Stimmen riefen gleichzeitig: »Schweiger! He, Schweiger!«
Hinkebein geriet in Bewegung.
»Wieder die Schatten«, sagte er und erhob sich hastig. »Los, Schweiger, was sitzt du noch, ich will mir das ansehn.«
Candide stand auf, zog das Skalpell aus dem Hemdausschnitt und eilte zum Waldrand.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher