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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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hast du das von der Stadt und den Weibern nur gesponnen? Oder es ist dir bloß so vorgekommen – die Räuber haben dir Nawa weggenommen, und du hast dir das vor Kummer bloß eingeredet? Hinkebein glaubt’s nämlich auch nicht: Er meint, es war dir bloß so vorgekommen. Was soll denn das für eine Stadt im See sein, beim stinkigen Pelz – alle sagen doch, sie war’ auf dem Hügel und nicht im See. Kann man im See vielleicht leben, beim stinkigen Pelz? Da gehn wir doch alle Mann unter, wenn dort bloß Wasser ist, beim stinkigen Pelz, ist mir völlig Wurscht, daß dort Weiber sind, ins Wasser geh ich nicht mal wegen der Weiber, ich kann nämlich nicht schwimmen, wozu auch? Notfalls könnt’ ich ja am Ufer stehenbleiben, während du sie aus dem Wasser ziehst… Also gut, du steigst ins Wasser, und ich bleib’ am Ufer, beim stinkigen Pelz, auf die Weise kommen wir beide schnell klar…«
»Hast du dir einen Stock gesucht?« fragte Candide.
»Wo, beim stinkigen Pelz, soll ich im Wald einen Stock herkriegen?« entgegnete Faust. »Wegen ‘nem Stock muß man in den Sumpf. Dazu habe ich aber keine Zeit, hab’ mein Essen bewacht, damit’s der Alte nicht wegfrißt, und wozu brauch’ ich überhaupt einen Stock, wo ich doch nicht vorhabe, mich mit jemandem zu prügeln… Da hat sich schon mal einer geprügelt, beim stinkigen Pelz…«
»Schon gut«, sagte Candide, »ich such’ dir selber einen Stock. Übermorgen brechen wir auf, vergiß es nicht.«
Er drehte sich um und machte sich auf den Rückweg. Faust hatte sich nicht verändert. Niemand von denen hatte sich verändert. Wie sehr er sich auch bemüht hatte, es ihnen einzutrichtern – sie hatten nichts begriffen, hatten ihm, wie’s schien, nicht mal geglaubt. Schatten können den Weibern unmöglich dienen, Schweiger, da hast du so übertrieben, Bruderherz, daß es drei Mann nicht wieder hinbiegen können. Die Weiber haben eine Heidenangst vor den Schatten, sieh dir meine an, dann sprechen wir uns wieder. Und was das ertrunkene Dorf betrifft – das war einfach die Besetzung, das weiß jeder auch ohne dich, einfach unerklärlich, was deine Weiber dabei sollen… Und überhaupt warst du gar nicht in der Stadt, Schweiger, gib’s ruhig zu, wir nehmen’s dir nicht krumm, dazu erzählst du viel zu spannend. In der Stadt bist du jedenfalls nicht gewesen, das wissen alle, denn wer einmal dort war, kommt nicht wieder zurück… Und deine Nawa haben dir nicht irgendwelche Weiber weggenommen, sondern ganz gewöhnliche Räuber, Räuber von hier. Gegen die Räuber kommst du nie und nimmer an, Schweiger, obwohl du natürlich ein tapferer Mann bist, wie du die Schatten fertigmachst – da kriegt man ja vom bloßen Zusehn das Gruseln…
Der ‘Gedanke vom nahenden Untergang wollte einfach nicht in ihre ‘Köpfe. Dazu schritt der Untergang zu langsam voran und währte zu lange. Wahrscheinlich lag es daran, daß dem Begriff »Untergang« etwas Plötzliches, Augenblickliches, Katastrophales innewohnte. Sie aber konnten und wollten nicht verallgemeinern, konnten und wollten nicht an eine Welt außerhalb ihres Dorfes denken. Da war das Dorf, und da war der Wald. Der Wald war stärker, das aber war seit jeher so und würde immer so bleiben. Was hatte das mit Untergang zu schaffen? Weshalb Untergang? Es war einfach das Leben. Ja, wenn jemand von einem Baum erschlagen wurde, war es natürlich der Tod, doch dafür hatte man schließlich einen Kopf auf den Schultern, machte sich beizeiten Gedanken… Aber irgendwann werden sie zur Besinnung kommen. Wenn keine Frauen mehr übriggeblieben sind, wenn die Sümpfe unmittelbar bis an die Häuser heranreichen, wenn mitten auf den Straßen Quellen hervorbrechen und violetter Nebel über den Dächern aufsteigt…
Doch wer weiß, vielleicht kommen sie selbst dann nicht zur Besinnung. Vielleicht sagen sie einfach: Hier können wir nicht länger leben – es ist die Besetzung. Und ziehen fort, ein neues Dorf zu bauen…
Hinkebein saß an der Hausschwelle und goß Gärmasse über eine neue Pilzkolonie, die in der Nacht entstanden war. Er wollte gerade frühstücken.
»Setz dich«, sagte er freundlich zu Candide. »Ißt du mit? Die Pilze sind gut.«
»Ja, gern«, sagte Candide und setzte sich dazu.
»Iß nur, iß«, sagte Hinkebein. »Du bist ja nun ohne Nawa, wird noch eine Weile dauern, bis du ohne sie klarkommst. Ich hab’ gehört, du willst wieder fort? Wer hat mir das doch gleich gesagt? – Ach ja, du selber warst’s: Ich geh’ weg, hast du
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