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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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bist du bloß fortgegangen? Hast dich von Hinkebein beschwatzen lassen und bist fort, aber begreift Hinkebein etwa, was man darf und was nicht? Nein, Hinkebein begreift das nicht, schon Hinkebeins Vater war schwer von Begriff, genauso sein Großvater, der ganze Hinkebeinsche Stamm ist so, deshalb sind sie auch alle gestorben, und Hinkebein wird gleichfalls unweigerlich sterben, da hilft nichts… Hör mal, Schweiger, vielleicht hast du noch irgendwas zu essen im Haus, vielleicht hast du doch irgend etwas zu essen im Haus, vielleicht ist’s bloß versteckt? Viele verstecken’s doch… Wenn du’s also versteckt hast, hol’s schnell ‘raus, ich will essen, ohne essen geht’s bei mir nicht, ich hab’ mein Leben lang gegessen, bin dran gewöhnt… Na ja, jetzt bist du also ohne Nawa, und Schwanz ist auch vom Baum erschlagen worden… Schwanz, ja – der hatte immer ‘ne Menge zu essen im Haus! Drei Töpfe voll auf einmal hab’ ich bei ihm verdrückt, obwohl das Essen bei ihm nie so richtig gar war und nicht geschmeckt hat, darum ist er wahrscheinlich auch vom Baum erschlagen worden… Wie oft hab’ ich ihm gesagt: So ein Zeug darf man nicht essen…«
    Candide erhob sich und suchte die Verstecke im Haus ab, die Nawa angelegt hatte. Es gab tatsächlich nichts zu essen! Da ging er auf die Straße hinaus, bog links ab und schlug die Richtung zum Platz ein, zu Fausts Haus. Der Alte trottete hinterher, beklagte sich greinend. Auf dem Feld hörte man den trägen, ungleichmäßigen Singsang: »He, he, he – nur zu, immer sä’, sä’ mal links, sä’ mal rechts…« Im Wald schallte das Echo wider. Candide hatte jetzt Morgen für Morgen die Empfindung, daß der Wald unaufhörlich näher rückte. Das war natürlich nicht der Fall, und selbst wenn es so gewesen wäre – ein menschliches Auge hätte das nicht wahrnehmen können. Die Zahl der Schatten im Wald konnte gleichfalls kaum gewachsen sein, dennoch hatte man den Eindruck, daß es mehr waren als früher. Wahrscheinlich ‘ lag es daran, daß Candide jetzt wußte, wer diese Schatten waren, und sie haßte. Wenn jetzt ein Schatten am Waldrand auftauchte, riefen sofort alle: »Schweiger! Schweiger!« Und er ging hin und tötete alle mit dem Skalpell, schnell, zuverlässig; mit grausamer Befriedigung. Das ganze Dorf lief zusammen, um diesem Schauspiel beizuwohnen, man wunderte sich lauthals und schlug die Hände vors Gesicht, wenn der gewaltige, von Dampf umhüllte Körper von der schrecklichen weißen Klinge zerteilt wurde. Die Kinder machten sich nun nicht mehr über den Schweiger lustig, sie hatten eine Heidenangst vor ihm: Wenn er auftauchte, stoben sie auseinander und versteckten sich. Über das Skalpell wurden abends in den Häusern die unwahrscheinlichsten Dinge erzählt, aus der Haut der Schatten wurden auf Anweisung des gewitzten Dorfältesten Tröge gefertigt. Es wurden sehr gute Tröge, groß und haltbar…
    Mitten auf dem Platz stand steif aufgerichtet und bis zur Gürtellinie im Gras der Horcher, von einem lila Wölkchen umgeben, die Hände erhoben, mit glasigen Augen und Schaum auf den Lippen. Um ihn herum drängten sich neugierige Kinder, schauten und lauschten mit offenen Mündern – dieses Schauspiel wurde ihnen nie über. Candide blieb ebenfalls stehen, um zuzuhören, da waren die Kinder plötzlich wie vom Wind zerstreut.
    »In die Schlacht ziehen neue…«, phantasierte mit metallischer Stimme der Horcher. »Erfolgreiche Truppenverschiebung… weite Gebiete, in denen Ruhe herrscht… neue Verbände der Freundinnen… Frieden und Verschmelzung…«
    Candide ging weiter. Sein Kopf war schon seit dem Morgen klar, er spürte, daß er denken konnte, er begann darüber nachzusinnen, wer dieser Horcher war und was er für eine Funktion hatte. Jetzt hatte es Sinn, darüber nachzudenken, denn jetzt wußte Candide einiges, manchmal schien ihm sogar, daß er sehr viel, wenn nicht gar alles wisse. Jedes Dorf hat seinen Horcher, sagte er sich, wir haben einen, der Weiler hat einen. Und da prahlt der Alte herum, daß sie in jenem Dorf, das jetzt das Pilzdorf heißt, einen besonderen Horcher gehabt hätten. Wahrscheinlich gab es einmal Zeiten, da viele Leute wußten, was es mit der Besetzung auf sich hatte, da sie begriffen, von welchen Erfolgen die Rede war. Und wahrscheinlich waren die damals noch interessiert daran, daß es so viele wußten, oder bildeten sich zumindest ein, daran interessiert zu sein. Bis sie zu dem Schluß kamen, besser wär’s ohne das
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