Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
Vom Netzwerk:
gesagt. Wieso hält’s dich nicht zu Hause? Du solltest zu Hause bleiben, dann ginge es dir auch so gut… Willst du ins Dickicht oder zum Ameisendorf? Ins Dickicht würd’ ich ja mitgehn. Wir würden beide von hier aus rechts abbiegen, durch den lichten Wald hindurch, wo wir gleich noch ein paar Pilze sammeln könnten, auch Gärmasse würden wir mitnehmen und dort was essen – im lichten Wald sind die. Pilze sehr gut, solche wachsen im Dorf nicht, auch woanders wachsen sie nicht… hier ißt man und ißt, und es reicht einfach nicht… Wenn wir dann gegessen hätten, würden wir den lichten Wald hinter uns lassen und am Brotsumpf vorbeigehn, dort würden wir wieder was essen – herrliche Gräser gibt’s dort, ganz süß, einfach erstaunlich, wie auf Sumpf und Dreck solche Gräser wachsen können… Na, und dann würden wir natürlich drei Tage lang laufen, immer der Sonne nach, wir kämen im Dickicht ‘raus…«
»Wir beide wollen zu den Teufelsfelsen«, erinnerte Candide geduldig. »Übermorgen brechen wir auf. Faust kommt auch mit.«
Hinkebein schüttelte zweifelnd den Kopf. »Zu den Teufelsfelsen…«, wiederholte er. »Nein, Schweiger, zu den Teufelsfelsen schaffen wir’s nicht, wir schaffend nicht. Weißt du überhaupt, wo die Teufelsfelsen liegen? Wer weiß, ob sie’s überhaupt gibt oder ob man das nicht einfach so dahinsagt: Teufelsfelsen… Zu den Teufelsfelsen komm’ ich also nicht mit, ich glaub’ nicht an sie. Ja, wenn’s in die Stadt wäre oder noch besser zum Ameisendorf, das liegt hier ganz in der Nähe, ein Katzensprung… Hör mal, Schweiger, laß uns ins Ameisendorf gehn, da kommt auch Faust mit. Im Ameisendorf war ich nämlich nicht mehr, seit ich mir das Bein verletzt hab’. Nawa hat immer mal gedrängt: Laß uns ins Ameisendorf gehn, Hinkebein, hat sie gesagt. Sie wollte gar zu gern das Loch sehn, wo ich mir das Bein verletzt hab’… Ich aber hab’ ihr gesagt, daß ich nicht mehr wüßte, wo dieses Loch wäre, überhaupt gäb’s das Ameisendorf womöglich gar nicht mehr, ich war ja lange nicht mehr dort…«
Candide kaute auf einem Pilz herum und sah Hinkebein an. Hinkebein redete und redete, sprach vom Dickicht, sprach vom Ameisendorf – mit gesenktem Blick, nur von Zeit zu Zeit richtete er ihn auf Candide. Du bist ein guter Mensch, Hinkebein, dachte Candide, ein gütiger, du kannst reden, der Dorfälteste achtet dich, und du warst nicht von ungefähr der beste Freund und Gefährte des berühmten Gekränkten, eines Menschen, stets auf der Suche und voller Unruhe, der aber nichts fand und irgendwo im Wald verscholl… Schlimm ist nur, Hinkebein, daß du mich nicht in den Wald lassen willst, du hast Mitleid mit mir armem Schlucker. Der Wald ist ein gefährlicher, todbringender Ort, zu dem viele aufgebrochen und aus dem nur wenige zurückgekommen sind, und wenn sie zurückkamen, dann völlig verschreckt, mitunter auch verkrüppelt… der eine mit kaputtem Bein, der andere sonstwie krank… Deshalb willst du mich an der Nase herumführen, Hinkebein: Mal gibst du vor, selber verdreht zu sein, mal mich, den Schweiger, für verrückt zu halten. In Wirklichkeit aber bist du fest überzeugt: Ist es dem Schweiger das eine Mal gelungen zurückzukehren, wenn auch ohne Nawa, so gibt es dieses Wunder kein zweites Mal…
»Hör zu, Hinkebein«, sagte Candide, »hör mir jetzt mal gut zu. Sag, was du willst, denk, was du willst, um eins aber bitte ich dich ganz herzlich: Laß mich nicht im Stich, geh zusammen mit mir in den Wald. Ich brauche dich sehr im Wald, Hinkebein. Übermorgen brechen wir auf, und ich möchte sehr, daß du dabei bist. Hast du das verstanden?«
Hinkebein sah Candide an, und seine ausgeblichenen Augen waren undurchdringlich.
»Aber ja doch«, sagte er, »ich verstehe dich sehr gut. Natürlich brechen wir gemeinsam auf. Von hier aus biegen wir links ab, kommen an einem Feld und an zwei Steinen vorbei – und sind dann schon am Weg. Dieser Weg ist sehr leicht zu erkennen: Es gibt dort so viele Findlinge, daß du mir die Beine brechen kannst… Iß ruhig Pilze, Schweiger, iß nur, sie sind gut… Auf diesem Weg also gelangen wir zum Pilzdorf, ich hab’ dir, glaub’ ich, schon davon erzählt, es ist völlig ausgestorben, ganz und gar von Pilzen überwuchert, aber nicht von solchen wie die hier, sondern von schlechten, die wir nicht essen dürfen, weil man von ihnen krank werden und sogar sterben kann. In diesem Dorf machen wir also gar nicht erst halt, sondern gehn gleich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher