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Eine schnelle Novelle

Eine schnelle Novelle

Titel: Eine schnelle Novelle
Autoren: Paula Fabian
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Wie alles begann
    Da war sie wieder. Ich hatte mich nicht verhört.
    Ich stand am Morgen meines dreißigsten Geburtstags, vom Reinfeiern noch leicht verkatert, vor dem Badezimmerspiegel und putzte mir die Zähne, als mich eine Stimme laut und deutlich mit einem »Guten Morgen, Lisa« begrüßte. Vor lauter Schreck fiel mir die Zahnbürste aus der Hand – ich hatte ihre Stimme nun seit fünf Jahren nicht mehr gehört und eigentlich gedacht, dass ich sie nie wieder hören würde … Aber jetzt war sie wieder da. Das konnte nur Ärger bedeuten.
    »Zwo?« fragte ich unsicher – nach einer durchfeierten Nacht neigt man ja dazu, fremde Stimmen zu hören.
    »Wer denn wohl sonst?« kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. »Der Weihnachtsmann, oder was?«
    »Was machst du hier?« wollte ich wissen.
    »Kannst du dir das nicht denken?«
    »Ehrlich gesagt: Nein.
    Zwo seufzte schwer. »Wenn du noch nicht einmal weißt, weshalb ich hier bin, bist du echt ein hoffnungsloser Fall.«
    »Also«, überlegte ich laut, »bisher bist du immer dann aufgetaucht, wenn in meinem Leben etwas schiefgelaufen ist.«
    »So ist es«, bestätigte Zwo.
    »Dann verstehe ich aber trotzdem nicht, was du jetzt von mir willst!« wunderte ich mich.
    »In meinem Leben läuft alles wunderbar, wie am Schnürchen, könnte gar nicht besser sein.«
    »Das glaubst aber auch nur du.«
    Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin nicht verrückt. Ich kann Ihnen alles erklären: Auch wenn es vielleicht ein bisschen seltsam klingt, ich habe ein anderes – aber nicht unbedingt besseres – Ich. Haben wir eigentlich alle, nur ist es bei den meisten Menschen nicht ganz so präsent wie bei mir. Und zugegebenermaßen hat dieses andere Ich in der Regel auch nicht so eine ausgeprägte Persönlichkeit wie Zwo – aber eins nach dem anderen.
    Lisa Zwei, kurz Zwo genannt, tauchte das erste Mal auf, als ich vier Jahre alt war. Mein älterer Bruder Ralf hatte gerade meiner Lieblingspuppe Lucy einen Arm ausgerissen, und ich saß heulend in meinem Zimmer, die misshandelte Puppe fest an mich gedrückt. Ralf machte sich oft einen Spaß daraus, meine Spielsachen kaputt zu machen, zu verstecken oder mich sonst irgendwie zu drangsalieren. Kinder können grausam sein, und leider war ich für Ralf immer ein dankbares Opfer, weil ich mich nie gegen ihn wehrte. Als er sich dann an meiner Lieblingspuppe vergriffen hatte, steckte ich sozusagen in der ersten handfesten Krise meines jungen Lebens. Und in diesem Augenblick trat Zwo auf den Plan.
    »Hör auf zu heulen«, donnerte plötzlich ihre Stimme in meinem Kopf, »wehr dich endlich mal!« Damals war es mir noch nicht einmal komisch vorgekommen, dass eine Stimme aus dem Nichts mit mir sprach. Mit einer Selbstverständlichkeit, wie nur Kinder sie an den Tag legen können, nahm ich es hin, eine unsichtbare Freundin zu haben.
    »Was soll ich denn machen?« schluchzte ich.
    »Das, was ich dir sage.« Und das tat ich, zuerst ein wenig widerwillig, dann mit wachsender Begeisterung. Die Gelegenheit war günstig, denn Ralf war mit meinen Eltern zum Einkaufen gefahren, so dass sie frühestens in einer Stunde wieder zurück sein würden. Zeit genug also, um Gerechtigkeit zu üben.
    Zuerst sammelte ich nach Zwos Anweisungen Ralfs Matchbox–Autos zusammen, legte sie auf das obere Backblech im Ofen und stellte ihn auf maximale Hitze. Dann nahm ich mir Ralfs Unterhosen vor, streute ein Gemisch aus Cayennepfeffer und Curry hinein, um sie anschließend wieder fein säuberlich zusammengelegt in seinen Wäscheschrank zu packen. Anschließend griff ich mir einen Edding und bearbeitete damit hingebungsvoll Ralfs Fußballposter, mit denen er sein Zimmer tapeziert hatte. Besondere Aufmerksamkeit schenkte ich seinem Lieblingsposter vom HSV, seinem ganzen Stolz, denn alle Spieler hatten darauf unterschrieben. Nicht genug, wie ich fand: mit schwungvollen Bewegungen malte ich einfach noch ein paar Unterschriften dazu, und weil ich damals nur meinen eigenen Namen in krakeligen Druckbuchstaben schreiben konnte, hatte jeder der Spieler nach vollbrachter Arbeit ein dickes, fettes »Lisa« auf der Stirn stehen. Nach dieser Aktion hatte ich auch die letzten Skrupel verloren – ich war nicht mehr zu bremsen. Zu den Matchbox–Autos, die mittlerweile gut durch waren, packte ich noch Ralfs blöde Grusel–Hörspielkassetten, mit denen er mir immer einen Schrecken einjagte, indem er sie mitten in der Nacht in meinem Zimmer abspielte. Ich schnitt bei all seinen Schuhen
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