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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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rufen: »Mutter! Ich bin’s! Das ist ja wirklich Mutter!« Die dummen Weiber, warum liefen sie nicht fort? Hatte die Angst sie gelähmt? Bleib stehen, befahl er sich, bleib sofort stehen! Wie lange soll ich denn noch zurückweichen? Doch er brachte es nicht fertig stehenzubleiben. Hinter mir ist doch Nawa, dachte er. Und diese drei Närrinnen… Dicke, verschlafene, stumpfsinnige Närrinnen… Und Nawa… Aber was gehn die mich eigentlich an, dachte er. Hinkebein hätte schon längst das Weite gesucht mit seinem lahmen Bein, von Faust gar nicht zu reden… Warum soll ich da stehenbleiben? Das ist ungerecht. Aber ich muß stehenbleiben! Na los doch, bleib endlich stehen! – Er brachte es dennoch nicht fertig und verachtete sich deswegen. Er sprach sich Mut zu, haßte sich wegen seiner Feigheit und wich immer weiter zurück.
Plötzlich blieben die Schatten stehen, wieder wie auf Kommando. Der an der Spitze verharrte mitten in der Bewegung, er setzte das Bein, das er gerade gehoben hatte, langsam, scheinbar unschlüssig, ins Gras nieder. Alle drei öffneten sie träge ihre Münder, wandten die Köpfe der Hügelkuppe zu. Candide, noch immer im Rückwärtsgang, sah sich um. Nawa hing mit zappelnden Beinen einer der Frauen am Hals, sie schien zu lächeln und tätschelte ihr den Rücken. Die beiden anderen Frauen standen ruhig daneben und schauten ihnen zu. Schauten nicht etwa zu den Schatten hin, zum Hügel. Nicht einmal Candide, dem fremden, stoppelbärtigen Mann, der womöglich ein Räuber war. Die Schatten aber verharrten unbeweglich, wie antike primitive Skulpturen und als wären ihre Beine in der Erde festgewachsen. Als gäbe es im Wald keine einzige Frau, die es zu greifen und an einen unbekannten Ort zu schleifen galt. Unter ihren Füßen hervor quollen, wie der Rauch eines Opferfeuers, Dampfschwaden.
Da drehte sich Candide um und ging auf die Frauen zu. Er schleppte sich mehr, als er ging, seiner Sache in keiner Weise sicher, er traute weder seinen Augen noch den Ohren und Gedanken. Unter seiner Schädeldecke wühlte schmerzhaft ein Klumpen, sein ganzer Körper tat weh nach dieser Todesanspannung.
»Lauft weg«, sagte er noch von weitem. »Lauft weg, solange es nicht zu spät ist, was steht ihr noch ‘rum?« Er wußte bereits, daß seine Worte sinnlos waren, doch er tat mechanisch seine Pflicht, murmelte immer von neuem: »Hier sind Schatten, lauft weg, ich halte sie auf…«
Sie beachteten ihn gar nicht. Nicht, daß sie ihn überhört oder übersehen hätten – das junge Mädchen unter ihnen, blutjung noch, vielleicht ganze zwei Jahre älter als Nawa und dünnbeinig, musterte ihn sogar kurz und lächelte ihm freundlich zu –, er bedeutete ihnen einfach nichts. Er war gleichsam ein großer zugelaufener Hund, wie sie überall herumstreunen, ohne bestimmtes Ziel und bereit, sich stundenlang vor einem aufzubauen, um auf sonstwas zu hoffen.
»Warum lauft ihr denn nicht fort?« fragte Candide leise. Er erwartete schon gar keine Antwort mehr und erhielt auch keine.
»Oje«, sagte die dritte, die schwanger war, lachend und schüttelte den Kopf. »Wer hätte das für möglich gehalten? Du etwa?« Sie wandte sich zu Nawas Mutter: »Wie war das denn, meine Liebe, hat er tüchtig gekeucht? Hat er dabei geschwitzt und sich abgestrampelt?«
»Bestimmt nicht«, sagte das junge Mädchen. »Es war wunderbar, nicht wahr? Er war frisch wie die Morgenröte und duftete angenehm…«
»Wie eine Lilie«, fügte die Schwangere hinzu. »Von seinem Geruch wurde einem ganz schwindlig, und die Berührung seiner Hände verursachte ein Kribbeln auf der Haut… Hast du überhaupt noch ein ›Ach‹ über die Lippen gebracht?«
Die Junge prustete los. Nawas Mutter lächelte schief. Sie waren alle drei stramm, kerngesund und ungewöhnlich sauber, wie gebadet – sie waren auch in der Tat frisch gebadet: Ihr kurzes Haar war naß, und die gelben sackförmigen Kleider klebten an den feuchten Körpern. Nawas Mutter war die kleinste, und wie’s schien, die älteste von allen. Nawa hatte sie um die Taille gefaßt und das Gesicht an ihre Brust gepreßt.
»Ach ihr«, sagte Nawas Mutter betont unwirsch, »was wißt ihr schon von diesen Dingen? Ihr habt doch keine Ahnung…«
»Natürlich nicht«, erwiderte sogleich die Schwangere, »woher sollten wir auch? Deshalb fragen wir dich ja… Also sag uns bitte, wie sie war, die Wurzel der Liebe.«
»War sie bitter?« fragte die Junge und prustete erneut los.
»Die Frucht war jedenfalls recht süß«,
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