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Die Reise nach Uruk

Die Reise nach Uruk

Titel: Die Reise nach Uruk
Autoren: Vampira VA
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zwischen den Sitzreihen. Der Zug rumpelte über den unzählige Male geflickten Schienenweg. Dumpf drangen die Geräusche der Lok durch den Wagen.
    Neli erreichte die Tür und zog sie auf. Sie vermied jeden Blick in die gebleckte Grimasse des Krüppels oder auf die nikotinzerfressenen Zähne des Pilgers. Draußen bückte sie sich und öffnete den Verschluß des Koffers.
    »Was ist es?« erreichte sie die neugierige Stimme der Beduinenfrau, der das Gepäckstück gehörte. »Ist es schön und kostbar?«
    Neli hob den Deckel. Schön und kostbar? Sie schauderte. Der Pokal, nach dem ihre Hände wie von selbst hinunterlangten, war nicht ... schön, aber ungemein anziehend. Er hatte die Form einer kurzstie-ligen Blume. Das Trinkgefäß hatte die Form eines Blütenkelchs. Es sah uralt aus; wahrscheinlich war es allein dieses Alters wegen schon kostbar, aber es war nicht . nicht .
    Neli kam es vor, als würden ihre Gedanken beim Anblick des sonderbaren Kelchs allmählich gerinnen. Auch ihr Körper reagierte auf die Berührung, der er sich selbst ausgesetzt hatte. Das Kleinod war nicht kalt noch warm, und dennoch schien es an Nelis Fingern zu kleben.
    Sie stöhnte verzweifelt.
    Darius sagte: »Bring ihn mir! Ich zeige dir, was man damit macht!«
    Neli versuchte sich gerade aufzurichten. Ihr war schlecht. Für Augenblicke verlor sie jeden Ankerpunkt in ihrer Umgebung. Alles begann sich in einem fürchterlichen Wirbel zu drehen und unterzugehen.
    Als sich die Desorientierung wieder gelegt hatte, kam der nächste, noch überwältigendere Schock, und es war ihr unbegreiflich, wie sie das, was sich außer dem Trinkgefäß noch im Koffer der Beduinenfrau verbarg, hatte übersehen können: Darius, ihr Mann, lag darin! Er war tot, übelst zugerichtet, doch selbst in diesem grauenhaften Zustand stand er Neli näher als das Wesen im Abteil, das Darius' Gesicht gestohlen hatte!
    Obwohl sie es schaffte, sich reflexartig umzudrehen, war Neli ansonsten wie paralysiert. Ihr Mund stand weit offen und blieb dabei stumm wie der des Toten, während sich ihre Gedanken zäh wie brodelnde Lava durch die Gänge ihres Gehirns wälzten.
    Ein Traum, dachte sie. Ein - Alptraum.
    Der Anblick des Abteils hatte sich verändert. Die Beduinenfrau, der Pilger und der Blinde hingen reglos zusammengesunken auf ihren Sitzen, unter denen sich riesige Blutlachen gebildet hatten. Jemand hatte ihnen die Hälse durchgeschnitten, und nicht erst eben. Sie mußten schon seit Stunden tot sein.
    Die einzigen Überlebenden in dem Raum waren Nelis Sohn, der apathisch auf seinem Platz kauerte, und der Mann, der nicht ihr Mann war. Der Mann, der ...
    In dieser Sekunde zerlief die Physiognomie des Wesens, das Neli getäuscht hatte, wie Wachs in glühend heißer Sonne. Andere, nie zuvor gesehene Züge traten zum Vorschein.
    Der dunkelhäutige Fremde stand auf und glitt auf Neli zu. Nein, »glitt« war der falsche Ausdruck, er war einfach da, direkt vor ihr, so als hätte er überhaupt keinen Schritt tun müssen, um sie zu erreichen!
    Das war tröstlich, denn es erhärtete Nelis Verdacht, alles nur zu träumen.
    Alles nur zu .
    *
    Sheikh Kharig wischte sich mit dem Handrücken über das öl- und rußverschmierte Gesicht. Kurzatmig stand er im Führerhaus der 2-30 und gestattete sich einen flüchtigen Blick zum Nachthimmel, wo die Gestirne immer wieder von den grauschwarzen Dampfbahnen aus dem Schornstein der Tenderlokomotive verdeckt wurden. Nur ab und zu rissen die Schwaden auf und ließen das verschrammte Gesicht des Dreiviertelmonds erkennen.
    Voller Vorahnungen hatte Kharig diese Fahrt angetreten. Vergleichbar heftig hatten ihn derart unartikulierbare Befürchtungen in den vierzig Jahren Dienstzeit noch nicht heimgesucht.
    Er war beunruhigt. Sein Gesicht troff vor Schweiß. Die offene Feuerungskammer, aus der ihm die Kohlenglut entgegenschien, strahlte eine Hitze aus, die Kharig in dieser Nacht fast unerträglich war. Andere in seinem Alter hatten längst ihren wohlverdienten Ruhestand angetreten, aber Kharig brachte diesen Schritt nicht übers Herz. Außer ihm riß sich niemand um die Strecke Bachtahan-Shush-Diyarbaki, die durch eine elend verlassene Gebirgslandschaft führte, in der es kaum Streckenposten gab. Deshalb brauchte Kharig auch nicht zu fürchten, zwangspensioniert zu werden. Aber lange würde sein Körper die Anstrengung, die er ihm zumutete, nicht mehr ver -kraften. Das wußte er und hatte sich darauf eingestellt, wahrscheinlich im Führerhaus seiner geliebten
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